Gabriel Pieras kann sich noch genau daran erinnern, wie allmorgendlich die Sirenen durch Inca heulten. Was für den heute 78-Jährigen das Signal war, sich auf den Weg zur Schule zu machen, erinnerte Tausende Arbeiter auf Mallorca an den Schichtbeginn in den Schuhfabriken. „Es war das akustische Symbol der Welt der Schuh­industrie", sagt der Stadtchronist. Die Sirene jeder Fabrik hatte ihren eigenen Klang, den die Arbeiter identifizieren mussten.

Heute ist der Industriestandort Inca weitgehend Geschichte. Wenn wie an diesem Donnerstag (18.11.) zum großen Jahrmarkt ­Dijous Bo auch Industrieprodukte ausgestellt werden, sind die wenigsten davon in der Lederstadt hergestellt worden. Auch wenn die Markennamen weiter mit der Stadt verbunden sind, stehen die meisten Produktionsstätten in Ländern, in denen die Lohnkosten niedriger sind – eine Lücke in der örtlichen Wirtschaft, die nicht so leicht zu füllen ist.

Den Startschuss für den industriellen Aufschwung von Inca kann Chronist Pieras an einer Jahreszahl festmachen: 1875 nahm die Eisenbahnlinie nach Palma ihren Betrieb auf, und die industrielle Revolution konnte durchstarten. Das handwerkliche Know-how war bereits vorhanden: Töpfer stellten Krüge und Schüsseln her, Weber verarbeiteten Hanf und Wolle, die Schuster konnten auf eine bereits 1478 gegründete Zunft zurückblicken, auch Schlosser und Zimmermänner standen bereit.

Als Pionier der Schuhindustrie erwies sich Antoni Fluxà, der im Jahr 1877 befreundete Schuster um sich sammelte und die Arbeit aufteilte: Sohle, Absatz, Schnürpendel – die Arbeitsschritte wurden rationalisiert. 1880 führte die Unternehmerfamilie Enseñat aus Sóller die Stoffherstellung nach katalanischem Vorbild ein – dort saßen neben England die Pioniere der industriellen Revolution.

Durch die zentrale Lage auf der Insel hatte Inca enorme Standortvorteile, ein eigener Gerichtsstand verlieh der Stadt zusätzliche Anziehungskraft. Die Industrie wurde zum Wachstumsmotor der Stadt, die ab 1898 sogar eigene Gaswerke beherbergte. Auch Anfang des 20. Jahrhunderts hielt der Aufschwung an – Spanien nahm nicht am Ersten Weltkrieg teil, und so konnte man an die Kriegsteilnehmer auf beiden Seiten der Front liefern. Inca erlebte schließlich in den 20er und 30er Jahren den Höhepunkt seiner industriellen Entwicklung.

Wie viele Arbeiter in der Industrie Anstellung fanden, sei schwierig zu beziffern, sagt Chronist Pieras – schon damals wurde fleißig schwarz gearbeitet. „Wenn der Mann Schuster war, arbeiteten oft auch Frauen und Kinder zu Hause." Verlässliche Zahlen hat Pieras für die 50er Jahre, damals waren bei knapp 13.000 Einwohnern in Inca 7.000 Arbeiter in der Schuhindustrie registriert. Rund 2.000 von ihnen stammten aus umliegenden Orten wie Selva, Llubí oder Buger.

Der Niedergang setzte in den 60er Jahren ein. Die Gründe: fehlende Fachkräfte, veralteter Maschinenpark, Engpässe und mangelnde Qualität bei der Lederbelieferung. So zumindest analysierten 1965 die damaligen Unternehmer die Krise, nachzulesen in einer Serie der MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca". „Die Wunde ist groß, Lösungen tun Not", schrieb Antoni Fluxà junior. Beklagt wurde auch die Atomisierung des Gewerbes: Betriebe und Kooperativen würden nicht gemeinsam nach Absatzmärkten suchten. Und bürokratische Hürden: „Wenn wir eine Belegschaft von hundert Arbeiter erreichen, müssen wir enorme Steuern zahlen, deswegen will niemand weiter wachsen", moniert der Fabrikant Josep Albadalejo Pujadas.

Der einstige Jobmotor auf Mallorca geriet zunehmend in den Schatten der Tourismuswirtschaft. Dort fanden sich lukrative Investi­tionsmöglichkeiten und leichte Jobs. In den 70er Jahren setzte zudem die Wirtschaftskrise der Lederindustrie schwer zu, Absatzmärkte in den USA brachen weg. Die Zahl der Betriebe ging kontinuierlich zurück. Viele der verbliebenen Unternehmen verlagerten schließlich ihre Produktion ins Ausland – erst nach Portugal und Marokko, dann ganz nach Fernost.

„Zum Glück wurden in den vergangenen Jahren keine großen Unternehmen mehr geschlossen, auch wenn viele den Umsatz zurückgefahren und Personal abgebaut haben", sagt Felipe Jerez, Stadtrat für wirtschaftliche Entwicklung der regierenden Volkspartei (PP) und verweist auf das Beispiel Yanko. Der Strukturwandel vom Industrie- zum Dienstleistungsstandort sei schon seit langem in Gang, „jetzt macht uns der Zusammenbruch der Bauwirtschaft noch stärker zu schaffen."

Immerhin befänden sich weiterhin die Unternehmenssitze einiger der weltweit wichtigsten Schuhmarken in Inca, so der Politiker. „Auch wenn von der einstigen Produktion nicht mehr viel übrig ist, sind einige Fabriken wie zum Beispiel George´s immer noch in Betrieb." In der Lederstadt würde weiterhin am Marketing gearbeitet und das Design für die kommende Saison entworfen. Nicht zuletzt sei Inca ein wichtiger Standort für die Grafikdesign-Branche.

Zudem müht sich der Einzelhandel, Inca als Shoppingmeile zu vermarkten. Davon zeugen im Büro der Associació de Comerciants Plakate von Modeschauen, Mister-Wahlen oder von der Verlosung von Mikrowellen-Geräten. Derzeit ist die erste Auflage einer Tapas-Messe geplant. Ausreichend neue Parkplätze, eine frisch sanierte City, entspannte Einkaufsatmosphäre – Branchensprecher Josep Nicolau setzt auf den Shopping-Standort Inca, „auch wenn wir wissen, dass wir die Lücke der Industrie nicht füllen können." Wenn da nur nicht die Chinesen mit ihren Billig-Läden wären, die sich auch in Inca überall ausbreiteten.

Im Rathaus wird unterdessen die Ausweisung eines neuen Gewerbegebiets vorbereitet. Dort sollen sich Firmen ansiedeln, denen es im Zentrum zu eng wird, aber auch Start-ups, sagt Jerez, Industrie und Handel hätten „große Perspektiven". Wo früher Arbeiter zu den Fabriken strömten, sollen Shopping-Freunde für Leben sorgen. „Inca ist schon heute als großes Open-Air-Einkaufszentrum bekannt."

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