Ein wahres Urlaubsparadies sollte für alle da sein. Auch für die, die es sich nicht leisten können. Und an denen sich die Erholung etwa in Becquerel messen lässt – der Maßeinheit für Radioaktivität.

Urlaub von der Strahlenbelastung: 63 Kinder aus Russland, Weißrussland und der Ukraine verbringen dieser Tage mit speziellen Programmen ihre Ferien auf der Insel. 23 Kinder sind mit „Infants del Món" (Kinder der Welt) gekommen, einer mallorquinischen Organisation, die bereits seit 20 Jahren derlei Reisen organisiert. Und am vergangenen Samstag (9.7.) landeten weitere 40 Kinder, die von der ebenfalls mallorquinischen „Associació Per Ells" eingeladen wurden: Sie kommen aus der unmittelbaren Umgebung des 1986 zerstörten Reaktors.

„Die Strahlung bei den Kindern wird gemessen, bevor sie zu uns in den Urlaub kommen, und direkt nach ihrer Rückkehr", sagt Esperanza Seguí, die Gründerin und Vorsitzende von „Per Ells". Meist verringere sich der Bequerel-Wert dank der Ferien am Mittelmeer um 50 Prozent.

Die Kinder, die noch bis zum 23. August bei Gastfamilien auf der Insel untergebracht sind, wohnen alle zwischen 40 und 50 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Ein Radius von 30 Kilometern um den Reaktor ist Sperrgebiet. Den Urlaub mit viel Sonne und Vitaminen ermöglicht „Per Ells" (Für sie) vor allem Kindern aus Heimen sowie aus ärmeren Familien.

Bei „Infants del Món" kommen dieses Jahr 16 Urlaubskinder aus der russischen Stadt Briansk, die gut 200 Kilometer von Tschernobyl entfernt liegt. Sieben weitere stammen aus Murmansk, der Hafenstadt nördlich des Polarkreises, in der ein Teil der russischen Nuklearflotte stationiert ist und in deren Umgebung auch Atomversuche durchgeführt wurden.

„Es ist schwierig, die Folgen der niedrigen, aber dauerhaften radioaktiven Strahlung einzuschätzen, die in der Heimat der Kinder herrscht", sagt Kinderarzt Artur Sharhyan Perosyan, der „Infants del Món" ehrenamtlich und in russischer Sprache bei der medizinischen Versorgung der Kinder hilft. Insbesondere bei den Kindern aus Murmansk kämen zur Strahlenbelastung die harten Lebensbedingungen am Polarkreis hinzu, mit einem Winter, in dem es knapp fünf Monate lang nicht hell wird. Und einem Sommer, in dem über einen Monat lang die Sonne nicht untergeht.

Und so geht es für die Kinder zunächst einmal darum, tief durchzuatmen. „Auf der Insel können sie sich erholen", sagt Sharhyan, „die freien Radikale im Körper verringern sich, eventuell beschädigte DNA-Moleküle können sich regenerieren." Und auch psychisch täten den Kindern Urlaub, Sommer, Sonne und gesundes Essen mit vielen Vitamine gut.

In der Tat: Joanna und Anastasia genießen ihren Finca-Urlaub mit Pool bei Sa Pobla in vollen Zügen. Ihre Gastmütter von „Infants del Món" sind Margarita und María Magdalena Crespi, selbst Mutter und Tochter. Seit sechs Jahren nehmen sie jeden Sommer Kinder auf. Die 29-jährige María Magdalena teilt mit ihnen sogar ihr Zimmer. Zu ihrer Mutter Margarita sagen auch Joanna und Anastasia „Mami".

Die Kinder wissen nicht viel über Tschernobyl, aber was sie wissen, spricht Bände: „In Tschernobyl hat meine Tante gelebt", sagt die elfjährige Anastasia. „Sie hat mir von einem Mann erzählt, der dort gearbeitet hat, mit spezieller Kleidung, und der sterben wollte, weil er solche Schmerzen hatte."

Warum sie auf Mallorca Urlaub machen, wird ihnen nicht so direkt gesagt. „Ich denke, wir sind hier, weil die spanischen Familien gerne Zeit mit uns verbringen wollen", sagt die 14-jährige Joanna. Margarita Crespi drückt das gar nicht so unähnlich aus: „Ich nehme an dem Programm teil, weil ich etwas Gutes für die Kinder tun will."

Die Verständigung ist schwierig. Margarita Cres­pi kauft den Mädchen Bücher, damit sie sich Spanisch und Katalanisch aneignen können. „Infants del Món" hat in diesem Jahr den Sommer­eltern ein Heft mit Bildern und den dazugehörigen Bezeichnungen in Russisch, Spanisch und Katalanisch an die Hand gegeben. Zur Not kann auch die russische Übersetzerin helfen, welche die Kinder auf den Flugreisen begleitet.

Ana Crespi, eine weitere, nicht mit Margarita verwandte Gastmutter, die die achtjährige Rimma aufgenommen hat, muss diese Hilfe durchaus in Anspruch nehmen: „Frage Rimma, was sie gerne essen möchte, bisher habe ich nur verstanden, dass sie Frankfurter Würstchen mag", bittet sie die Übersetzerin. Rimma wird von ihren Gasteltern nach Strich und Faden verwöhnt: mit Hannah-Montana-Sandalen, Prinzessin-Tasche und Digitalkamera für ihre Urlaubsfotos. Die Bilder zeigen Rimma beim Spielen mit den Nichten von Ana Crespi, beim Plantschen im Pool, mit beiden Gasteltern und Hund sowie am Meer. Den Strand findet Rimma allerdings nicht so toll: „Ich mag das salzige Wasser gar nicht."

Die Beziehung zwischen Kindern und Gasteltern ist eng, manchmal schmerzhaft eng. Vor Rimma nahm Ana Crespi drei Jahre lang einen Jungen bei sich auf, Alex. Auch er sprach seine Gastmutter mit „Mami" an. „Für mich ist bei jedem Abschied am Flughafen eine Welt zusammengefallen," sagt Ana Crespí, die keine eigenen Kinder hat.

Doch etwas lief aus dem Ruder: „Alex war sehr schwierig, wollte immerzu alles, und wenn er es nicht bekam, kreuzte er die Arme vor der Brust und sagte gar nichts mehr." Es habe ihr das Herz gebrochen, aber ein weiteres Mal habe sie ihn nicht aufnehmen wollen. Auch ob Rimma nächstes Jahr wiederkommen dürfe, traue sie sich im Moment nicht zu sagen.

Zu der Betreuung kamen beiden Familien durch eine einfache Frage, die von Sebastián Roig, dem Gründer von „Infants del Món", und seinen Mitstreitern an sie gerichtet wurde: ¿No queréis ser padres por un mes? Wollt ihr nicht Eltern für einen Monat sein? Das Netzwerk der Nichtregierungsorganisation zählt mittlerweile 150 Familien. Ebenso wie bei „Per Ells" mit einem Netzwerk von rund 40 Familien werden neue Gasteltern erst nach sorgfältiger Prüfung und mehreren Treffen in die Urlaubsprogramme aufgenommen.

Die Auswahl und die Formalitäten für die Kinder koordiniert bei „Infants del Món" eine Kontaktperson in Moskau und auf Mallorca Sebastián Roig persönlich. Auch „Per Ells" arbeitet mit einer Organisation vor Ort in Weißrussland zusammen, die sich dort um Ausreisemodalitäten und Übersetzerin kümmert. Auf Mallorca organisiert Esperanza Seguí die Formalitäten, Erlaubnis vom Inselrat inklusive, und informiert die Gasteltern. Finanziert werden Reise, Versicherung und Arztbesuche in beiden Fällen über Spendengelder, die etwa mit Ständen auf Märkten und Fiestas gesammelt werden. Die Verpflegung im Urlaub übernimmt die Gastfamilie. Bei „Infants del Món" wird ab dem zweiten Besuch noch ein Beitrag zum Flug fällig, bei „Per Ells" zahlen neue Familien einen kleinen Teil der Reisekosten.

Ob es bald auch vacaciones de Fukushima, Urlaub vom japanischen Katastrophengebiet auf Mallorca geben wird? „Nein, das wäre eine zu teure und zu lange Reise", sagt Esperanza Seguí, Gründerin und Vorsitzende von „Per Ells". Außerdem findet sie, es geben noch genügend Kinder rund um Tschernobyl, die Hilfe brauchen. Irina, ihre Gasttochter, bekommt diese Hilfe seit sechs Jahren. Mit Erfolg: Die Zwölfjährige spricht mittlerweile fließend Katalanisch. In diesem Jahr hat sie noch eine Gastschwester: Olga. Sie ist acht Jahre alt. Ihr Zuhause in Weißrussland liegt nur 20 Kilometer von Tschernobyl entfernt. In der Sperrzone.

Kontakt zu „Infants del Món": Sebastián Roig, Tel. 650-95 08 38. „Associació Per Ells": Esperanza Seguí, Tel. 600-78 65 81, Internet: www.perells.balearweb.net