Die Deutsche Gisela von Stein ist eine von ihnen. 2012 hatte Axel H. seine 66-jährige Lebensgefährtin nach einem Streit erschlagen und im Garten des gemeinsamen Anwesens in Canyamel verscharrt. Im März 2015 gestand er die Tat und wurde in Palma zu zehn Jahren Haft verurteilt (die MZ berichtete). Von Stein gehört zu den insgesamt 23 Todesopfern häuslicher Gewalt auf den ­Balearen zwischen 2004 und 2014. Am Freitag (11.3.) wure eine weitere Frau ermordet. Die Mehrzahl von ihnen hatte im Vorfeld keine Anzeige gegen ihre Peiniger gestellt.

Warum nicht? Das haben sich nun an der Balearen-Universität (UIB) die Psychologinnen Esperança Bosch und Victoria Ferrer in einer Studie gefragt. In nur vier Fällen waren die Opfer zuvor zur Polizei gegangen, in zwei Fällen war das nicht mehr zu ermitteln, 17 der Frauen hatten vorab keine Anzeigen erstattet. Bosch und Ferrer trugen in Interviews mit Freunden und Familie, Sozialarbeitern, Polizisten, Ärzten und Anwälten Informationen zu Opfern und Tätern zusammen.

Die Auswertung zeichnet ein komplexes Bild aus emotionalen und finanziellen Abhängigkeiten, Angst, Scham sowie Unwissenheit über und mangelndem Vertrauen in das System, das sie vor einem tödlichen Übergriff hätte schützen können. Doch alles kulminiert in einem Hauptgrund: „Den Frauen war die tatsächliche Gefahr nicht bewusst", sagt Bosch. Sie glaubten nicht, dass ausgerechnet ihr Partner oder Ex-Partner in der Lage sein würde, sie umzubringen.

Dabei geht in nahezu 100 Prozent der Fälle dem physischen Übergriff bereits psychische Gewalt voraus, bestätigt Janka Jurkiewicz. Die ehemalige Polizistin koordiniert seit zwei Jahren in der Delegation der Madrider Zentralregierung auf den Balearen alle Institutionen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Überhaupt ist seit nunmehr gut 20 Jahren in ganz Spanien eine breite Front gegen die Gewalt an Frauen entstanden: Jeder einzelne Mord wird hier von den spanienweiten Medien aufgegriffen und genau analysiert, es werden Schweigeminuten abgehalten und Protokolle und Gesetze verschärft. Und die Polizei greift gewöhnlich schon beim geringsten Verdacht hart durch. „Wir haben schon viel erreicht", sagt Jurkiewicz.

Und dennoch: Allein im Januar 2016 wurden im ganzen Land acht Frauen von einem Partner oder Ex-Partner umgebracht - nur 2006 waren es mehr. Im Februar kamen drei weitere hinzu, in zwei Fällen muss noch bestimmt werden, wer der Täter war. Spanienweit gelten derzeit 52.005 Frauen als gefährdet.

Keine Psychopathen

Die Mörder der Frauen sind nicht zwangsläufig psychisch krank. „Das ist ein Mythos. Die meisten zeigen sozial ungesundes Verhalten, haben aber keine klinisch diagnostizierbare Störung", sagt Ferrer. Zu diesem Ergebnis kam auch eine vor Kurzem veröffentlichte Doktorarbeit, die 30 feminicidos untersucht, die in Barcelona vor Gericht kamen: Bei 15 Prozent der Täter wurde im Zuge der Verhandlung zwar eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, doch bei keinem war sie ­gravierend. „Dahinter steckt vielmehr ein extremer Machismo", sagt Bosch, die sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema beschäftigt. Der Glaube an die Überlegenheit des Mannes sei mit Rassismus vergleichbar. „Beide gibt es in vielen Abstufungen - und es gibt eine Gruppe, die auf Basis ihrer Überzeugungen handelt", sagt Ferrer.

Am Anfang stehe der Glaube, über eine Frau bestimmen zu dürfen, meint auch Jurkiewicz. Es folgten herablassende Kommentare und Anschuldigungen, die in physischem Missbrauch gipfeln. „Das passiert schleichend und untergräbt das Selbstbewusstsein und die Würde der Frauen. Auch deshalb fällt es vielen schwer, sich rechtzeitig zu trennen", sagt Jurkiewicz. Zumal gerade der Ausstieg aus diesem Teufelskreis der Erniedrigung ein großes Risiko birgt.

Die Studie von Bosch und Ferrer belegt: Sich von einem gewalttätigen Partner zu trennen, ist gefährlich. In knapp 40 Prozent der untersuchten Fälle hatten die Frauen ihren Partner bereits verlassen oder waren gerade dabei, als dieser sie umbrachte. Nur knapp die Hälfte teilte ihren Wohnsitz mit dem Angreifer. „Bei einer Trennung merkt der Täter, dass sein System nicht mehr funktioniert und er die Kontrolle verliert. Manche kommen dann zu dem Schluss: Sie soll mir gehören oder keinem", sagt Ferrer.

Erfassung im Polizeicomputer

Um derartige Fälle zu vermeiden, arbeitet die spanische Polizei mit einem Computerprogramm namens Viogen. Mithilfe der Anzeige und eines Fragebogens stuft der zuständige Beamte das Gefährdungs­risiko der Frau von gering bis ex­trem ein. Auf Mallorca sind derzeit 393 Fälle registriert. Bei einer der Frauen ist das Risiko extrem, bei zwei weiteren hoch (96 mittel, 294 niedrig). Die Polizei schützt gefährdete Frauen über regelmäßigen telefonischen Kontakt mit einem Beamten, gerichtlich angeordneten Kontaktverboten, Personenschutz rund um die Uhr oder der Empfehlung, in ein Frauenhaus zu ziehen. Doch ohne Anzeige geht nichts, sagt Jurkiewicz. „Die Mechanismen setzen sich dann gar nicht erst in Gang."

Seit sie ihre aktuelle Stelle angetreten hat, sind fünf Frauen auf den Balearen durch häusliche Gewalt zu Tode gekommen. Keine hatte im Vorfeld eine Anzeige erstattet. Und einfache Lösungen gibt es nicht. „Wenn wir wollen, dass in einem Einkaufszentrum nicht mehr geklaut wird, stellen wir zusätzliches Sicherheitspersonal ein, bei häuslicher Gewalt geht das nicht", sagt Jurkiewicz. Was geht und hilft: Aufklärung und Erziehung. „Wir müssen den jungen Leuten beibringen, dass eine gesunde Beziehung auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt basiert und dass Kontrolle und Eifersucht nicht normal sind", sagt sie.

Esperança Bosch und Victoria Ferrer stimmen zu: mehr Bildung, mehr Sensibilisierung. Das gelte auch für unbeteiligte Dritte, die Gewalt gegen Frauen beobachten oder vermuten. „Wenn jemand auf der Straße ein Fenster kaputt macht, überlegst du ja auch nicht lange, sondern rufst die Polizei", sagt Ferrer. Vor allem in ländlichen Gegenden herrsche hingegen noch die Meinung vor, dass Beziehungsprobleme zur Privatsphäre zählen und man sich nicht einmischen solle. „Wer die Anzeige erstattet, muss die Situation ja nicht einschätzen. Dafür ist die Polizei da", sagt Bosch. Jurkiewicz versichert, dass der Besuch eines Beamten schon Ruhe in so manchen Streit gebracht habe.

Die Wissenschaftlerinnen fordern auch mehr Verantwortung von der Politik. „Die Todesopfer sind ja nur die extreme Form häuslicher Gewalt. In der Gesamtheit handelt es sich um einen sozialen Notstand, und der muss auch als solcher erkannt und gehandhabt werden", sagt Bosch. Sie vergleicht die Ausmaße häuslicher Gewalt mit denen des Terrors. Ein Blick auf die Statistik genügt: Die Gesamtzahl derer, die in einem Zeitraum von 35 Jahren bei Angriffen der baskischen ETA ums Leben gekommen sind, schwankt je nach Quelle zwischen 829 und 858. Zuverlässige Zahlen zu den Todesopfern häuslicher Gewalt gibt es seit 2003. Bislang sind es 826. Und ausnahmslos Frauen.

Der Schmerz der Familie

Und es gibt noch weitere Opfer: die Hinterbliebenen, die mit Selbstvorwürfen zu kämpfen haben. „Das ist ja kein Autounfall - was tragisch genug wäre. Die Angehörigen kannten den Täter, haben Weihnachten und Geburtstage mit ihm gefeiert", sagt Ferrer. Es gebe keine Hilfseinrichtung, die adäquat auf ihre Bedürfnisse vorbereitet wäre, und so blieben die Hinterbliebenen häufig in ihrer Verzweiflung allein.

Janka Jurkiewicz wird bei diesem Thema sehr still. Sie will nicht ausführlich darüber sprechen, aber vor mehr als 20 Jahren erhielt sie einen Anruf von einem Polizisten, der Hunderte Kilometer entfernt war: „Er sagte kalt: ´Wir haben Ihre Schwester im Müll gefunden.´" Ihr Partner hatte sie und ihren Sohn umgebracht. Jeder in der Familie habe das Geschehene auf seine Art verarbeitet. „Man muss sich klarmachen, dass der Täter schuld ist, nicht man selbst", sagt Jurkiewicz.