Auf einmal war die Yacht weg. Ein stattliches Schiff, festgemacht im Hafen von Sant Antonio auf Ibiza, einfach verschwunden. Die ausländische Eigentümerin meldete den mutmaßlichen Diebstahl der Polizei und ihrer Versicherung. Das war 2009. Dann passierte lange nichts, das Verfahren wurde eingestellt - um drei Jahre später plötzlich wiederaufgenommen zu werden. Die Ermittler waren inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass die Unternehmerin die Yacht, die später unprofessionell umlackiert in Südspanien wiederauftauchte, mithilfe eines ehemaligen Mitarbeiters absichtlich verschwinden ließ. Im Frühjahr 2016 musste sie auf Ibiza vor Gericht erscheinen, als Beschuldigte wegen angeblichen Versicherungsbetrugs. Auch mehrere Zeugen und Anwälte reisten auf die Nachbarinsel - wo die Richterin nach wenigen Minuten verkündete, dass gar nicht sie, sondern die Kollegen in Palma zuständig seien.

Während Anwältin Brigitte Röhrig, die die Schiffseigentümerin vertritt, den Fall schildert, fallen immer wieder Worte wie hanebüchen oder surreal. „Und ein Ende ist immer noch nicht in Sicht", sagt Röhrig, die sowohl die deutsche als auch die spanische Anwaltszulassung besitzt, seit 20 Jahren auf Mallorca arbeitet - und mit dem Beispiel die Unzulänglichkeiten des spanischen Justiz­wesens vor Augen führen will.

Willkür, Ineffizienz und vor allem Langsamkeit bekommt Spaniens Rechtsprechung auch von Ekkehardt Boxberger, der seit 1975 als deutscher und spanischer Anwalt auf den Balearen tätig ist, attestiert. „Am schlimmsten ist es am Gericht in Manacor, das ist allen Anwälten ein Graus", sagt Boxberger. Wegen völlig überlasteter oder aus eben diesem Grund krankgeschriebener Mitarbeiter zögen für simpelste Verfahren - Verkehrsunfälle, Scheidungen, Erbstreitigkeiten - vier bis fünf Jahre ins Land. Ärger um plötzlich nicht mehr auffindbare Akten und die hohe Fluktuation auf den Richterstühlen machen die Sache nicht besser.

Deutschland hat mehr Richter

„Dadurch gerät alles noch mehr in Verzug", bestätigt Juan Pedro Yllanes das Dilemma von Manacor. Er hat das System in seiner 27-jährigen Richterlaufbahn von innen kennengelernt - und sollte zuletzt den Prozess gegen Infantin Cristina und 17 weitere Angeklagte im Fall Nóos leiten, ließ sich dann aber Ende 2015 freistellen, um als balearischer Spitzenkandidat der Protestpartei Podemos in den Abgeordnetenkongress in Madrid zu ziehen. Die Überlastung der Gerichte führt Yllanes auf deren miese technische und personelle Ausstattung zurück. Da die Balearen in Justizangelegenheiten dem Innenministerium unterstehen, seien ständige Datenabgleiche nötig - nur leider sind die hiesigen Computersysteme weder mit Madrid noch mit anderen spanischen Regionen verbunden. Zudem mangle es schlichtweg an Richtern. Das bestätigt das EU-Justizbarometer 2015: Während in Deutschland etwa 25 Richter auf 100.000 Einwohner kommen, sind es in Spanien gerade einmal zehn.

Und ist in einem Strafprozess endlich ein Urteil ergangen, sorgt die Vollstreckungsabteilung oftmals für weitere Verzögerung. „Man hat weiter ein Damoklesschwert über sich hängen", sagt Brigitte Röhrig und erinnert an den Fall eines 26-jährigen Mannes aus Sevilla: Er hatte als 18-Jähriger nach einer Party ein Leihfahrrad der Stadt entwendet und erst jetzt, sechs Jahre nach seiner Verurteilung wegen Diebstahls, den Vollstreckungsbescheid erhalten. Darin wurde die Umwandlung in eine Geldstrafe oder Arbeitsstunden abgelehnt, weshalb er für sechs Monate ins Gefängnis sollte - während seine schwangere Frau und die beiden Kinder zu Hause zurückblieben. „Man hat als Bürger, auch wenn man etwas verbrochen hat, Anspruch, dass einem in angemessener Zeit der Prozess gemacht wird, damit man mit der Sache abschließen und ein neues Leben beginnen kann", sagt Röhrig. Alles andere komme einer Willkür gleich, die eigentlich nur in totalitären Staaten herrsche.

Und die wünscht man - auch für den Fall, dass sie entgegen eigener Aussagen nicht unschuldig sind - nicht mal Rockerbossen, falschen Prinzen oder so manch unglücklichem Handlanger von Korruptionskönigin Maria Antònia Munar, der längst in Haft sitzenden Ex-Chefin der Unió Mallorquina. Der Anwalt eines der Beschuldigten im Korruptionsskandal um die ehemalige Regionalpartei erzählt, dass sein Mandant seit Jahren kein normales Leben führen könne und Antidepressiva einnehmen müsse. Vor etwa zwei Jahren wurden seine Konten gepfändet, und die Jobaussichten sind mehr als dürftig, wenn man erst einmal als Teil des korrupten Packs abgestempelt ist. „Dabei wurde die Anklage gegen ihn bereits in mehreren Teilverfahren fallen gelassen", sagt der Strafverteidiger, der lieber anonym bleiben möchte. Doch es warten noch viele weitere Verhandlungen, als freier Mann könne sich sein Mandant vermutlich erst in vielen Jahren fühlen.

Endlose Ermittlungen

Von quälend langen Ermittlungsverfahren kann auch der ehemalige Hannoveraner Hells-Angels-Boss Frank Hanebuth ein Lied singen, der nach seiner Festnahme auf Mallorca Mitte 2013 gut zwei Jahre in spanischer Untersuchungshaft saß, seit September 2015 wieder auf der Insel ist und nun seines Schicksals harrt - von einem möglichen Prozessauftakt keine Spur. Oder Jürgen zu Hohenlohe, dem Millionenbetrug mittels dubioser Investmentgeschäfte vorgeworfen wird. Nach vierjährigen Ermittlungen ist der Staatsanwalt Mitte April zwar zu dem Schluss gekommen, dass kein Anlass für eine Anklage besteht. Aus dem Schneider ist Hohenlohe damit aber längst nicht, der zuständige Richter hat das Ermittlungsverfahren noch nicht eingestellt.

Mit einer Änderung der Strafprozessordnung (Ley de Enjuiciamiento Criminal), die die PP-Regierung noch kurz vor den Wahlen Ende 2015 beschlossen hat, wurden die Zeiträume, die zwischen Beginn des gerichtlichen Ermittlungsverfahrens und Anklageerhebung vergehen dürfen, auf sechs bis 18 Monate begrenzt. In schwerwiegenden oder komplexen Fällen kann die Frist auf 36 Monate verlängert werden. Das Ansinnen, die Verfahren damit zu beschleunigen, scheint aber an der Praxis zu scheitern: Die Staatsanwaltschaft der Balearen muss bis Anfang Juni an die 10.000 anhängige Verfahren überprüfen - und sie entweder einstellen oder den ermittelnden Richtern Aufschub gewähren. Dass dabei nicht noch Zeit für die Presseanfrage nach einer Zwischenbilanz bleibt, ist nachvollziehbar.

Bei Gonzalo Boye, dem Madrider Anwalt von Frank Hanebuth, hält sich die Freude ob der neuen Gesetzeslage ebenfalls in Grenzen. „Die Fristen wurden eingeführt, damit all die korrupten Politiker ungeschoren davonkommen", schimpft er ins Telefon. Im Falle seines Mandanten werde der Ermittlungsrichter hingegen sicherlich auf eine weitere Verlängerung drängen. „Aber dagegen werden wir sofort Widerspruch einlegen." Auch Podemos-Richter Yllanes kritisiert die Neuregelung scharf. Große Drogen- oder Korruptionsprozesse wie der um die Palma Arena, die erfahrungsgemäß erst nach sieben oder acht Jahren zur Anklage gelangen, würden zwangsweise damit enden, dass die mutmaßlichen Täter straffrei davon kommen. „Das kann nicht das Ziel sein, aber genau das wollte die PP offenbar."

Ein weiteres Novum der überarbeiteten Strafprozessordnung: Die imputados (Beschuldigte) im ­Ermittlungsverfahren sind künftig als investigados, also als Personen, gegen die ermittelt wird, zu bezeichnen. Der neue Ausdruck soll der Unschuldsvermutung besser gerecht werden - wird vielfach aber als reine Kosmetik gewertet. Im Volksmund und in der Medienberichterstattung sei der Terminus Beschuldigter schließlich seit jeher tief verankert, heißt es.

Für tatsächlich kurzen Prozess sorgen in der Praxis oftmals die immer beliebteren Deals zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigern. „Angesichts der Menge an Verfahren ist das eine Möglichkeit, um die Aktenberge abzuarbeiten", sagt Richter Yllanes. Das Verhandeln spart nicht nur Zeit und Geld, sondern spült obendrein Geld in die Staatskasse, da man sich in der Regel auf Strafzahlungen einigt, um Gefängnisstrafen abzuwenden. Soeben geschehen ist dies im Geldwäsche-Prozess um den mutmaßlichen russischen Mafiosi Alexander Romanov (siehe S. 6), der bereits nach dem zweiten Verhandlungstag mit einer Haftstrafe von knapp vier Jahren und der Dreingabe seines Hotels mit einem Schätzwert von zehn Millionen Euro davonkam - deutlich glimpflicher als von der Staatsanwaltschaft zunächst gefordert. „Das ist für beide Seiten eine interessante Einigung", findet Yllanes. Dass der Sachverhalt gar nicht abschließend aufgeklärt wurde - und auf einmal gar keine Rede mehr davon war, dass Romanov ein gefürchteter Mafiaboss sein soll -, schmälert den Erfolg der spanischen Ermittler seiner Meinung nach nicht. „Allein die Tatsache, dass sich Romanovs Anwalt auf das Verhandeln einließ, bedeutet, dass man ihm etwas nachweisen konnte."

Viel bedenklicher ist es für Yllanes, dass viele Urteile angefochten werden. „Hier kann man in allen Verfahren Rechtsmittel einlegen - und das nutzen die Anwälte auch schamlos aus", so der Richter. Anwalt Ekkehardt Boxberger dagegen hat eine andere Erklärung für das Wiederaufrollen auch der harmlosesten Fälle: „Die Urteile aus erster Instanz gehen fast alle in Berufung, weil sie so schlecht sind." Schuld daran ist in seinen Augen schlichtweg die fehlende Erfahrung der jungen Richter. Vernünftige Urteile ergingen in der Regel erst in zweiter Instanz am Landgericht in Palma - das aus diesem Grund völlig überlastet sei.

Richter oder Staatsanwalt kann in Spanien nur werden, wer nach dem Jurastudium ein Auswahlverfahren besteht, in dem meist Tausende Kandidaten um wenige Hundert Plätze buhlen. „Das bedeutet, dass junge Menschen sich jahrelang einsperren müssen, um stur Gesetze und Paragrafen auswendig zu lernen", erklärt Richter Yllanes, der die sogenannten oposiciones 1989 bestanden hat. „Das ist längst nicht mehr zeitgemäß." Es gehe dabei nicht im Geringsten darum, das Rechtssystem zu verstehen, kritisiert auch Hanebuths Anwalt Gonzalo Boye. Zudem werde durch die vermeintlich schwere Zugangshürde eine extreme Distanz zwischen Richtern und Staatsanwälten auf der einen, und Anwälten auf der anderen Seite geschaffen. „Die Justiz ist deshalb von einem ständigen Mangel an gegenseitigem Respekt und Vertrauen geprägt", sagt Boye. Und auch Brigitte Röhrig ist längst aufgefallen, dass in Spanien Richter und Anwälte nicht auf Augenhöhe zueinander stehen. „Man ruft hier nicht einfach mal beim Richter an, um etwas nachzufragen." Auch wenn das der Herstellung des Rechtsfriedens möglicherweise sehr zuträglich wäre.

Keine oder falsche Auskunft

Überhaupt scheint sich die Kommunikationsfreude der Justizbehörden stark in Grenzen zu halten. Man bekomme keine Auskünfte, falsche Auskünfte, könne sich auf kaum eine Information verlassen, klagen die deutschen Anwälte Röhrig und Boxberger gleichermaßen. Und wehe man beschwert sich. „Dann geht gar nichts mehr." Kritik hagelt es vonseiten ausländischer Beschuldigter und deren Anwälte häufig auch für die angeblichen Schlampereien der spanischen Ermittler. „Namen und Formalien werden in Spanien einfach nicht so ernst genommen", sagt der in Palma ansässige Anwalt Arno Meuser - seiner Ansicht nach passieren die meisten Fehler infolge falscher Übersetzungen. „Ich hatte einen Mandanten, der in U-Haft bleiben musste, weil die Dokumente aus Deutschland falsch übersetzt waren." Statt von eingestellten war darin von laufenden Verfahren die Rede, der Betroffene wurde daher als gefährlicher eingestuft, als er offenbar war.

Um Nachsicht bittet indes Richter Yllanes, Mallorca sei schließlich ein Sonderfall. Nirgendwo anders im Land fänden so viele Verfahren statt, in die Ausländer verwickelt sind, das erschwere so einiges. Einen Dolmetscher für die nigerianische Sprache Igbo finde man vermutlich nur in deren eigener Gemeinschaft. „Aber ob der in einem Drogenprozess völlig neutral übersetzt, ist fragwürdig." Justitia hat es also nicht leicht auf der Insel, so viel steht fest. Damit sie nicht irgendwann völlig baden geht, müsse vieles geändert werden, vor allem die Strafprozessordnung von 1882, fordert Yllanes. Denn nur durch eine grundlegende Modernisierung könne das Rechtssystem besser und effizienter werden. „So wie in Großbritannien oder Deutschland, wo ein Richter aufsteht, jemanden zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und das in einer nicht mal zehnminütigen Rede begründet." Doch das erreiche man nicht allein mit einer Gesetzesreform. „Hierfür braucht es ein tiefes Vertrauen in die Justiz, und davon sind wir noch weit entfernt."