Wenn man mit Llorenç Coll seinen Arbeitsplatz besucht, hat man den Eindruck, der Mann kenne Tausende von Personen. Seit 18 Jahren arbeitet der Straßensozialarbeiter im Viertel Son Gotleu, nahe der Ringautobahn im Norden Palmas. Auf der Straße Tomás Rullán, einer breiten Seitenstraße der Hauptschlagader Indalecio Prieto, klopft er auf Schultern, schüttelt Hände, ruft Passanten Kommentare zu. Journalisten nimmt er nur mit, wenn sie „differenziert über sein Viertel berichten". Coll hat die Negativpresse über Drogenrazzien, Clankriege und Dschihadisten satt. „Das Leben hier ist gar nicht so schlimm", sagt er, „wir machen Fortschritte."

Die sind auf den ersten Blick nicht erkennbar. Immerhin hat das heruntergekommene Viertel mit 37 Prozent Ausländeranteil (der Insel-Durchschnitt liegt bei 17 Prozent) seit dem Regierungswechsel im vergangenen Jahr ein Sozialamt, einen Stadtteilbeauftragten und einen interkulturellen Mediator. Erstaunlich, dass so etwas bislang fehlte. Denn hier scheint so­ziale Zuwendung dringlicher als anderswo auf der Insel.

Niemand weiß, wie viele Menschen eigentlich in Son Gotleu leben („mindestens 9.000", sagt Coll). Immer mehr Menschen ziehen einfach in leer stehende Häuser ein und zahlen weder Miete noch Strom oder Wasser. In bankrottgegangenen Geschäften entstehen neue Läden, nachdem Unerschrockene das Schloss der Rollläden geknackt haben und ohne Genehmigung Waren anbieten. Die Spannung zwischen den Bevölkerungsgruppen ist beinahe körperlich spürbar. In Son Gotleu herrschen bürgerlicher Ungehorsam und Chaos. Und bei den Regierenden herrschen Rat- und Hilflosigkeit. Ein neues EU-Projekt namens UIA (Urban Innovative Actions, Urbane innovative Maßnahmen) soll nun Ideen und Geld bringen.

Vielleicht auch in die Wohnblocks aus den 60er-Jahren. Viele sind offensichtlich seit ihrer Errichtung nicht renoviert worden. Sie zeugen von jahrzehntelanger Vernachlässigung des Viertels. Nicht alle Probleme sind mit der Zuwanderung zu erklären. Die Balkone sind verhängt mit trocknender Wäsche. Man sieht Gasflaschen, Fahrräder und diversen Hausrat. Anwohner lehnen sich übers ­Geländer, werfen neugierige oder auch feindselige Blicke herunter. Aus offenen Fenstern dringt laute Flamenco-Musik. An den Haustüren fehlen Klingeln und meistens auch die Schlösser.

Betritt man das Halb­dunkel eines Hausgangs, dringt einem der Gestank von in der Julisonne vergärendem Müll entgegen. Die Schuhsohlen bleiben am vor Dreck starrenden Fußboden kleben. Ein älterer Nachbar im Unterhemd, der gerade noch in der Bar nebenan Domino gespielt hat, verweist auf den kleinen Innenhof seines Blocks: Hausmüll häuft sich auf dem Wellplatten­dach darüber. „Die schmeißen einfach alles runter", sagt er und in seinem Gesicht mischen sich Wut, Verzweiflung und Resignation.

Der Mann will anonym bleiben. Vor 37 Jahren ist er aus Albacete südöstlich von Madrid hierher gezogen, um auf dem Bau zu arbeiten. Seitdem lebt er mit seiner Frau in einer Erdgeschosswohnung des Blocks. Mit den gitanos, den spanischen Roma, die in den 80er-Jahren vom Festland kamen, habe man sich anfangs leidlich arrangiert, erzählt er, „doch mittlerweile haben viele Angst vor ihnen", sagt er. „Wenn du einem was sagst, hast du gleich den Clan am Hals."

Wenn er könnte, würde er wegziehen, sagt er, wie viele andere Spanier der ersten Generation. „Aber wohin soll ich mit 600 Euro Rente?", fragt er. Einmal die Woche steigt er auf eine Leiter, um mit einem Besen den Unrat seiner Nachbarn vom Dach zu holen und in einen Müllcontainer zu werfen. „Früher war Son Gotleu ein anständiges Viertel, der Stolz von Palma", sagt er.

Zwischen 2000 und 2008 vollzog sich ein deutlicher Wandel: Der Anteil außereuropäischer Ausländer verfünffachte sich. Die Kinder der Spanier zogen weg, vor allem Nigerianer und Marokkaner kamen, um auf der boomenden Insel in der Baubranche zu arbeiten. Viele von ihnen kauften mit einer Hypothek eine der kleinen, schon damals schlecht erhaltenen Wohnungen. Mit Beginn der Krise 2008 verloren sie ihre Arbeit, wurden bald von ihren Banken zwangsgeräumt. Die nahmen die Wohnungen wieder in Besitz, verschlossen sie und bieten sie zum Kauf. Doch niemand will sie haben, nicht einmal für 25.000 Euro. So vergammeln sie als Immobilienleichen im Portfolio der halbstaatlichen Abwicklungsbank Sareb in Madrid.

Viele der ­zwangsgeräumten Wohnungen haben sich die Bewohner zurückgeholt: Sie geben dem Wort Hausbesetzer eine neue Dimension. Um Kommunalabgaben oder Ausgaben der Eigentümergemeinschaft kümmert sich die Sareb nicht - und geht damit mit schlechtem Beispiel voran. Die meisten Nachbarn bezahlen keine Gemeinschaftsabgaben, die Häuser verkommen noch mehr. Llorenç Coll kennt das Problem. „Wir arbeiten am Zugehörigkeitsgefühl", sagt er. „Wenn die Anwohner das Viertel als ihr eigenes empfinden, ändern sie ihr Verhalten."

Es sind vor allem einzelne Zuwandererkinder, die den Fortschritt verkörpern, von dem der Streetworker spricht. Der 19-jährige Iyayi und seine Freunde Bobby und Harry zum Beispiel. Die drei stehen vor einem afrikanischen Lebensmittelladen in der Tomás-Rullán-Straße. Sie kleiden sich sorgsam, haben gepflegtes Haar, tragen teure Turnschuhe und Goldschmuck. Iyayi war der erste dunkelhäutige Junge in Son Gotleu, erzählt er. Heute ist er ein durchtrainierter junger Mann, der davon träumt, Krankenwagenfahrer zu werden, am liebsten in „meinem" Viertel. „Ich will hier nicht weg", sagt er entschieden, und Bobby und Harry fügen an: „Son Gotleu ist Teil unseres Lebens." Iyayis Familie denkt anders: Die Eltern leben seit ein paar Jahren in Kanada, seine Geschwister in Großbritannien.

Iyayi hat die spanische Staatsbürgerschaft und engagiert sich als Fußballschiedsrichter bei der Jugendarbeit. Er ist sozusagen Colls Verbindungsmann. Jeden Nachmittag kicken die Jungs von Son Gotleu auf der Plaça Orson Welles. „Integration funktioniert über Schule und Sport", sagt Coll und sollte vielleicht noch dazu sagen: und über Religion. Iyayi und Harry sind evangelikale Christen, Bobby ist Mormone. Jeden Sonntag verbringen sie mehrere Stunden in ihren Kirchen, wo sie singen und beten. Sie rauchen nicht, trinken keinen Alkohol, von Drogen ganz zu schweigen. „Mit denen da drüben haben wir nichts zu tun", sagen sie und zeigen mit dem Arm in Richtung Indalecio-Prieto-Straße. Dort betreiben Landsleute in einer Seitenstraße schummrige Geschäfte, in denen auffällig herausgeputzte junge Frauen und ungesund aussehende Männer herumstehen.

Auch Daniel Oliveira kennt Iyayi. Er ist tatsächlich so etwas wie der Stolz des Viertels. Oli­veira arbeitet seit einem Jahr im Stadtteilhaus, sein Büro ist direkt neben Gesundheitszentrum, Sozial­amt und Polizei. Oliveira ist das Bindeglied zwischen Bürgern und Rathaus. Ihm untersteht der Bezirk Llevant, der nordöstliche Bereich der Stadt. Er ist der größte und ärmste von Palmas fünf Bezirken und umfasst 26 Viertel, in denen rund 140.000 Menschen leben. Für alle sind Oliveira und seine Sekretärin zuständig.

Politisch verantwortlich, aber nicht vor Ort ist Joan Ferrer, Stadtrat für Mobilität. Der Job als Referent des Llevant-Bezirks ist dem Kunsthistoriker wohl auch deshalb zugefallen, weil seine Großeltern in Son Gotleu gelebt haben. „Ich habe hier oft auf der Straße gespielt", sagt er. Das war wohl damals, als das Arbeiterviertel noch „der Stolz von Palma" war. Heute zuckt Ferrer mit den Schultern und verweist auf das europäische UIA-Projekt, wenn man ihn auf Wohnungsnot und soziale Spannungen anspricht. „Es soll uns bei der Generalsanierung helfen", sagt er. Im Fall einer Zusage würden fünf Millionen Euro fließen, die in drei Jahren investiert werden müssen, in eine Mischung aus Häuserrenovierung, Bürger­ermächtigung und Belebung des Einzelhandels.

Auch Oliveira setzt auf Europa. Das Pilotprojekt UIA sei auf Son Gotleu perfekt zugeschnitten. „Wir haben hier alle typischen Probleme", sagt er. Zu den erwähnten müssten noch Sicherheit und Sauberkeit kommen. Die Müllcontainer quellen über, ausrangierte Sofas oder Kühlschränke harren auf den Gehsteigen oft tagelang ihrer Abholung. Und Polizisten machen sich rar. Eine genaue Zahl will Oliveira nicht nennen. „Die kommen und gehen", sagt er ausweichend, „mittags nehmen sie im Revier Anzeigen und Beschwerden entgegen."

Er verbringt seine Arbeitstage vor allem in anderen Vierteln des Bezirks, versucht dort Probleme zu lösen, die von einer kaputten Schaukel bis zu häuslicher Gewalt reichen. Vor seiner Bürotür ist er kaum unterwegs. „Hier fehlen mir schlicht die Ansprechpartner", sagt er, „es gibt keinen aktiven Nachbarschaftsverein." Ginés Quiñonero, seit mehr als 30 Jahren Vorsitzender des Vereins „Die Stimme von Gotleu", sei mit seinen mittlerweile 80 Jahren nicht mehr ernst zu nehmen, findet Oliveira. „Er wird sofort ausfallend." Abgesehen davon hat Oliveira noch ein anderes, grundlegendes Problem, wenn er mit Leuten im Viertel reden will: Die meisten Spanier sind im Renten­alter und haben resigniert. Und bei den Zuwanderern können die wenigsten Spanisch.