Es ist der 12. Februar 2016, Kellner Alex schiebt Frühschicht in der Bar España, einer typischen Eckkneipe in Palmas Viertel Es Rafal. In den Morgennachrichten läuft ein Bericht über den Holländer, der wegen eines Justizirrtums zwölfeinhalb Jahre unschuldig in spanischen Gefängnissen saß. Wenige Minuten später betritt der Mann aus dem Fernsehen die Bar, setzt sich an den Tresen, bestellt einen Kaffee, und noch einen, und noch einen.

„Ich konnte nicht schlafen, lief durch die Straßen und entdeckte die Kneipe, die schon um 6 Uhr aufmacht", erzählt Romano van der Dussen sechseinhalb Monate später an selber Stelle. Diesmal serviert Alex Bier und ein Tintenfisch-Sandwich. „Geht aufs Haus", sagt er und klopft van der Dussen aufmunternd auf die Schulter. Der Kellner war eine der ersten Personen, die van der Dussen nach seiner Haftentlassung in Palma kennenlernte. Inzwischen ist er ein guter Freund und die Bar España sein Stammlokal. „Die Leute hier im Viertel unterstützen mich sehr", erzählt der 43-Jährige, schiebt das Sandwich zur Seite und zündete sich erst mal eine Zigarette an.

Romano van der Dussen wirkt auf den ersten Blick wie ein gut gelaunter Sonnyboy. Doch er ist nervös, unsicher, wippt mit dem Fuß, manchmal rollt eine Schweißperle von seiner Stirn. Er baut sich gerade ein neues Leben auf - in einer Welt, die nicht mehr dieselbe ist wie 2003, und in einer Stadt, von der van der Dussen jahrelang nur die Aussicht aus dem Gefängnishof kannte. Zurück in seine Heimat will der Holländer nicht, und nach Marbella, wo er vor seiner Festnahme lebte, schon gar nicht. „Ich sehe meine Zukunft hier auf Mallorca", sagt er. „Hier will ich mit meiner Partnerin Natalia leben."

Die Frau aus Galicien hatte 2014 von seinem Fall in der Presse gelesen und ihm von da an Briefe geschrieben. Bald zog sie sogar nach Palma, um Romano regelmäßig besuchen zu können. Am Tag seiner Entlassung wartete die 46-Jährige an der Gefängnispforte, ganz schüchtern und unscheinbar, hinter einer Horde von Journalisten. Sie sei das Beste, was ihm in zwölf Jahren Haft, ja vielleicht im ganzen Leben passiert sei, sagte van der Dussen in einem seiner ersten Interviews in Freiheit.

Stolz zeigt er Fotos von ihren gemeinsamen Ausflügen, ein verliebtes Paar am Strand, am Pool, am Formentor-Leuchtturm. Bei ihr wohnen könne er allerdings nicht, erzählt van der Dussen dann. Natalias Familie sei nach wie vor gegen die Beziehung. „Die sind streng katholisch und wollen nicht, dass ihre Tochter mit einem Typen wie mir zusammen ist", sagt er und schüttelt mit dem Kopf, als ob er damit ausdrücken wollte, dass ihm wahrlich schon genug Schlimmes widerfahren sei, um sich nun auch noch mit solch kleinbürgerlichen Problemen rumschlagen zu müssen.

Ihm blieb dennoch keine andere Wahl, als sich eine eigene Wohnung zu suchen - doch auch dieses Unterfangen brachte herbe Rückschläge mit sich. „Es will eben keiner einen Mieter haben, der als Vergewaltiger im Knast saß, auch wenn das natürlich keiner laut ausspricht", sagt van der Dussen - und in diesem Moment kommt wieder die Verbitterung zum Vorschein, die einen Menschen prägt, der nicht aufhörte, seine Unschuld zu beteuern, während er durch Spaniens Gefängnisse geschoben wurde, wo das Personal ihn triezte und die Mithäftlinge ihm, dem Frauenschänder, das Dasein zur Hölle machten.

Am Ende habe Natalia einen Mietvertrag unterschrieben, für eine Wohnung gleich hier in Es Rafal, ganz in der Nähe der Pfarrei Mare de Déu de Montserrat, wo Gefängnisseelsorger Jaume Alemany ihm für die ersten Monate eine Unterkunft zur Verfügung gestellt hatte. Wieder zieht van der Dussen sein Smartphone hervor, zeigt Fotos von seiner neuen Bleibe. Die Miete habe er für ein ganzes Jahr im Voraus bezahlt, mit einem Vorschuss des holländischen Verlags, der im Oktober seine Geschichte in Buchform („Mein spanischer Albtraum") veröffentlichen wird, berichtet er euphorisch.

Dann wird seine Miene wieder ernst. Er mache sich finanzielle Sorgen, so ein Leben gehe schließlich ganz schön ins Geld: die ­Nebenkosten, das Handy, die Taxifahrten, wenn er nach der Nachtschicht nicht anders nach Hause komme. „Ich warte noch auf meinen Lohn, ich habe noch nicht mal einen Vertrag", sagt van der Dussen und zieht an einer weiteren Zigarette.

Seit einigen Wochen arbeitet er als Rezeptionist in einem kleinen Hotel am Paseo Marítimo - für jemanden, der mehrere Fremdsprachen spricht und schon in den Niederlanden und an der Costa del Sol in der Hotellerie tätig war, eigentlich ein Kinderspiel. Ja, der Job mache ihm Spaß, sagt van der Dussen. Die Arbeit sei gut für die Psyche und fürs Selbstwertgefühl. „Ich fühle mich wieder nützlich und habe nicht so viel Zeit zum Nachdenken." Doch er sei nicht mehr derselbe wie vor der Haft. „Ich kann mich nicht konzentrieren." Früher konnte er problemlos mehrere Dinge gleichzeitig tun, heute mache ihm schon eine einzelne Aufgabe zu schaffen.

Auch nachts finde er immer noch keine Ruhe, die vielen Jahre in der Zelle haben ihm den Schlaf geraubt. „Wenn du dir einen Raum mit drei unbekannten Personen teilen musst, schläfst du einfach nicht gut", sagt van der Dussen. Inzwischen nehme er nur noch, wenn es gar nicht anders geht, Tabletten. Zudem gehe er zur Psychologin. Sie soll die seelischen Wunden heilen.

Wie tief sie sind, bleibt hinter dem frisch rasierten Gesicht und der akkuraten Gelfrisur verborgen. Am Anfang, kurz nach seiner Festnahme, dachte van der Dussen, es handle sich um ein Missverständnis und die Sache würde sich schnell aufklären. Doch das Schicksal belehrte ihn eines Besseren. „Die Polizei glaubte der Aussage einer 69-jährigen Frau, die mich angeblich vom Fenster aus gesehen haben will, obwohl mich keine Videokamera aufgezeichnet hatte", sagt er und seine Gesichtszüge verkrampfen sich wieder.

Von der Zeit im Gefängnis will er nicht viel erzählen. Es waren 4.676 Tage. An manchen von ihnen habe er an Selbstmord gedacht, wollte verrückt werden. „Du kannst das nicht aushalten, du überlebst es nur, aber du lebst nicht mehr." In den letzten Jahren der Haft fing er an, seine Geschichte aufzuschreiben, auf 670 Blättern - der Verlag hat daraus ein 260-seitiges Buch gemacht. 4.000 Exemplare werden zunächst in den Niederlanden gedruckt. Mithilfe des spanischen TV-Journalisten Jordi Évole, der seinem Fall im Mai eine Folge seiner Sendung „Salvados" widmete, möchte van der Dussen nun auch einen spanischen Verleger finden.

Das niederländische Fernsehen dreht außerdem gerade eine sechsteilige Doku über den Justizskandal. An der Costa del Sol will der Sender zwei der Opfer interviewen. „Sie haben mich gefragt, ob ich mitkomme, aber das will ich nicht", sagt van der Dussen. Mit Jordi Évole dagegen sei er damals nach Holland gereist, für sechs Tage. Dabei sah er zum ersten Mal seine inzwischen 17-jährige Tochter wieder, die noch ein Kleinkind war, als er nach Spanien ging, und bei ihrer Mutter und deren neuem Lebensgefährten aufgewachsen ist. Auch seinen Vater konnte van der Dussen nach all den Jahren endlich wieder in die Arme schließen. „Er will mich demnächst auch auf Mallorca besuchen", erzählt er mit einem Strahlen im Gesicht. Für ein Wiedersehen mit seiner Mutter hingegen hat die Zeit nicht mehr gereicht. Sie starb an Krebs, während Romano im Gefängnis saß.

Allein deshalb könne es keine Wiedergutmachung geben für das, was ihm widerfahren ist, sagt van der Dussen. Aber zumindest finanziell müsse ihn der spanische Staat entschädigen. „Ich habe eine ganze Liste an psychischen Störungen, mir geht es richtig schlecht", sagt er in einer Mischung aus

Triumph und Verzweiflung. Den Psychiater, der ihm das Gutachten ausstellte, habe er lange suchen und teuer bezahlen müssen. „Aber das ist es mir wert. Die haben mich beschissen, jetzt bescheiße ich sie."

Sein Anwalt Silverio García hat beim Justizministerium inzwischen eine Schadenersatzforderung in Höhe von 6.358.680 Euro und zwei Cent eingereicht - die er allein für die rund dreieinhalb Jahre Haft geltend macht, die sein Mandant nach dem ersten Freispruch definitiv zu viel verbüßt hat. In den anderen beiden Fällen müsse van der Dussens Unschuld erst noch bewiesen werden, was mithilfe neuer Zeugenaussagen gelingen könnte. „Aber dass die Spurensicherung damals nicht richtig gearbeitet hat und wichtige Beweise verloren gingen, ist kaum mehr gutzumachen", sagt García.

Romano van der Dussen wäre mit zwei Millionen Euro zufrieden. Damit könne er sich ein Häuschen kaufen und einige Apartments. Die könnte er vermieten und sich so sein Auskommen sichern, damit ginge es ihm gut, sinniert er. „Ich versuche halt irgendwie, in ein normales Leben zurückzukehren."