Eines Tages, Xisco* muss damals Mitte zwanzig gewesen sein, nahm sein Onkel ihn und einen Kumpel zu einem Rekrutierungsbüro der spanischen Armee mit. Irgend­etwas musste der junge Mann doch machen. Vielleicht wäre das Militär genau der richtige Ort, um ihn aus seiner Apathie zu holen. Und die Armee brauchte gerade Soldaten. Im Rekrutierungsbüro setzte sich ihnen ein Soldat gegenüber und fing an, vom Militärleben zu erzählen. Er sagte, dass sie im Hauptquartier Playstation spielen könnten. Und er fragte sie, ob ihnen die Uniform gefiel, die er trug. Doch Xisco und sein Freund lachten ihn aus: „Du siehst aus wie ein Bauer." Irgendwann brach Xiscos Onkel die Unterhaltung ab. „Es war das letzte Mal, dass ich versucht habe, ihm dabei zu helfen, etwas aus seinem Leben zu machen."

Mittlerweile ist Xisco 34 Jahre alt. Eine Ausbildung hat er nicht, Arbeit genauso wenig. Xisco ist ein „Nini", ein Wedernoch. So werden seit einigen Jahren in Spanien junge Menschen genannt, die sich weder in schulischer, universitärer oder sonstiger Ausbildung befinden noch einer geregelten Arbeit nachgehen: Ni trabaja ni estudia. Xisco ist ein Extrembeispiel. Er selbst will nicht über sein Leben reden. Deshalb erzählt sein Onkel seine Geschichte. Das ist kein Einzelfall: Im Zuge der Recherche für den Artikel haben viele Ninis ein Interview verweigert: entweder aus Scham oder weil sie sich, entgegen aller äußerer Anzeichen, selbst nicht als Ninis erachten.

„Grobe Schätzungen"

Laut einer jüngst erschienenen Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD waren vergangenes Jahr 22,7 Prozent der Spanier zwischen 16 bis 29 Jahren Ninis. Der Erziehungswissenschaftler Lluís Ballester von der Balearen-Universität, der sich in mehreren Studien mit dem Phänomen auseinandergesetzt hat, mahnt allerdings zur Vorsicht bei solchen Zahlen. „Das sind grobe Schätzungen. Es kommt immer auf die Parameter an, die man anlegt."

Schon Xiscos alleinerziehende Mutter sei ein Nini gewesen, sagt sein Onkel. Eine höchst belesene Person, die aber suchtgefährdet war und wohl auch wegen ihres Drogenkonsums vor einigen Jahren starb. Immerhin habe Xisco nicht die Dröhnung gesucht. Stattdessen sei er nachts bis spät aufgeblieben und habe bis in den Nachmittag geschlafen. „Er hatte eine gute Comicsammlung und ein Motorrad, auf dem er gerne gefahren ist", sagt der Onkel. Er habe seinem Neffen Geld für Benzin und immer mal wieder ein Mittagessen spendiert. Dass er damit diesen Lebensstil gefördert habe, sei ihm sehr spät aufgefallen, gibt der Onkel zu.

Auf den Balearen gibt es etwa 172.000 Menschen zwischen 16 und 29 Jahren. Würden die anberaumten knapp 23 Prozent zutreffen, gäbe es hier 39.000 Ninis. „Das ist falsch", sagt Ballester. Bei seinen eigenen Berechnungen bezieht er die saisonale Beschäftigungskurve mit ein. „Wer einen Monat im laufenden akademischen Jahr gearbeitet hat, gilt für uns nicht als Nini." Mit dieser und weiteren Einschränkungen kommt der Pädagoge auf knapp 15.000 Wedernochs auf den Inseln. „Das ist schlimm genug." Schon herausgerechnet sind jene, die vielleicht einen kurzen Arbeitsvertrag hatten,und die, die einen mehrmonatigen Weiterbildungs- oder Berufseinsteigerkurs bei Organisationen wie der Caritas absolviert haben.

Xisco hat in seinem Leben gerade mal ein paar Stunden in einem Laden gearbeitet, seine Mutter einen einzigen Tag. Das kam vor ein paar Jahren bei einem Termin bei der Seguridad Social heraus. Die dort gespeicherten Daten über die Beschäftigungshistorie waren für einen Sozialhilfeantrag nötig. „Der Beamte dort kam mit den Blättern raus und lachte: Das müsse ein Rekord sein. Er habe noch nie jemanden mit so wenig Arbeitserfahrung gesehen", erzählt der Onkel.

Coole Außenseiter

Dabei sei es nicht so, dass Xisco gar kein Interesse an der Welt hat. „Er ist jahrelang geskatet, war sogar richtig gut. Mir haben Leute, die sich auskennen, gesagt, dass er in einem Land wie den USA, wo es entsprechende Infrastrukturen gibt, es wirklich zu etwas hätte bringen können." Hat Xisco nie erwägt, auf andere Weise zu einem produktiven Mitglied der Gesellschaft zu werden? „Ich glaube, er ist da wie seine Mutter. Sie fühlen sich als Rebellen gegen das System. Was sie aber auch nicht davon abhält, Geld von dem System anzunehmen." Das Umfeld habe dabei nicht geholfen: „Unter den Leuten, mit denen sich Xisco zumindest früher abgab, galt es fast schon als Statussymbol, wenn man ein Nini war. Man galt als cooler Außenseiter."

Eine zweite Chance

Wie früh der Abstieg ins Nini-Dasein beginnen kann, zeigen die Beispiele von Giovanni und Verónica. Wir treffen die beiden vor einer Schule in Palma. Dort absolvieren die beiden 16-Jährigen gerade ein Sonderprogramm, das Jugendlichen eine zweite Chance gibt, einen Schulabschluss mit Schwerpunkt auf Informatik nachzuholen. Es waren Pro­bleme mit den Lehrern, mit den Mitschülern, die dazu geführt haben, dass Verónica in den letzten Jahren höchstens sporadisch in der Schule aufgetaucht ist. „Das Schulsystem ist extrem sexistisch. Uns Mädchen wird nahegelegt, dass wir nicht zum Lernen gemacht sind", sagt sie. Sie ist von zwei Schulen geflogen. Jetzt, sagt sie, gehe es besser. Aber am Tag vor unserem Treffen hat es wieder mit einem Lehrer geknallt. „Er hat gesagt, ich sei unverschämt, also hab ich den Klassenraum verlassen. Entweder ich fange an zu heulen oder mit Dingen zu werfen." Drei Jahre war Veronica gar nicht in der Schule. Früher, sagt sie, sei sie eine gute Schülerin gewesen. Aber zu Hause habe es Probleme gegeben. Ihr Vater sitzt wegen Mordes in ihrem osteuropäischen Heimatland im Gefängnis. Und mit ihrer Mutter habe es regelmäßig Streit gegeben - bis hin zu Handgreiflichkeiten.

Bei Giovanni waren es hauptsächlich Probleme mit den Mitschülern, die ihn dazu gebracht haben, in den letzten vier Jahren nicht zur Schule zu gehen. „Außerdem habe ich mich dort furchtbar gelangweilt." Stattdessen hing er mit seinen Kumpels ab. Seine Eltern waren besorgt, drängten ihn immer wieder, sein Leben in die Hand zu nehmen. Doch er habe nur gesagt, er sei überrascht, wenn er überhaupt 20 Jahre alt werde. „Heute schäme ich mich dafür, solche Sachen gesagt zu haben. Ich hatte zwar sehr viel Spaß, aber ich habe vier Jahre meines Lebens weggeworfen."

„Das Schulsystem kann sehr streng sein", sagt der Pädagoge Ballester. Viele Schüler steigen noch vor Abschluss der Sekundarstufe aus." Einer jüngsten Studie zufolge, brechen auf den Balearen 26,7 Prozent der Schüler mit 16 Jahren die Schule vorzeitig ab. Das ist zwar der niedrigste Wert in der Geschichte der Balearen, aber die Inseln haben spanienweit immer noch die höchste Abbrecherquote. Es seien häufig Einwandererkinder, die aus ihrer Heimat oder ihren Familienverhältnissen nicht die Leistungsanforderungen des europäischen Schulsystems kennen. „Es ist sehr schwer, diese Jugendlichen ins Schulsystem, geschweige denn in eine

geregelte Arbeit zurückzubringen", so Ballester.

Wozu überhaupt arbeiten?

Noch schwerer wiege bei den Ninis aber die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Der biete selbst für jene Jugendliche zu wenige Anreize, die schon ein Berufs- oder Quereinsteigerprogramm absolviert haben. Angeboten werden sie von Nichtregierungsorganisationen und seit einiger Zeit auch vom balearischen Arbeitsministerium. So gibt es unter dem spanienweiten und teilweise mit EU-Geldern finanzierten Programm „Garantía Juvenil" ein Projekt in Zusammenarbeit mit den Gemeinden, um jungen Menschen zwischen 16 und 29 Jahren eine neun- bis zwölf

monatige Ausbildung zu garantieren. Die Gemeinden schreiben danach auch geeignete Arbeitsstellen aus. Im Moment seien balearenweit 169 Jugendliche bei diesem Programm untergekommen, so der Sprecher des Ministeriums, Joaquim Fuster. Ein weiteres Projekt wird zurzeit gestartet, dabei erhalten Jugendliche eine duale Ausbildung bei privaten Unternehmen.

Doch die Realität sieht im Moment für viele Jugendliche noch anders aus. „Nehmen wir etwa die Diskotheken und die Bars, wo viele junge Leute für vier oder fünf Euro die Stunde arbeiten", so Ballester. „Gehen wir von Arbeitszeiten von 22 bis 5 Uhr aus. Wenn um 23 Uhr nicht genug Publikum da ist, wird ein Großteil der Mitarbeiter nach Hause geschickt. Was haben Sie an diesem Abend verdient? Vier Euro! Das reicht im schlimmsten Fall nicht einmal für den Bus. Wer soll da noch motiviert sein, zur Arbeit zu gehen?"

Ein Rettungsschwimmer komme vielleicht auf 600 Euro im Monat - für einen Vollzeitjob. Bei den jungen Leuten, die bei McDonalds arbeiten, sei es nicht viel mehr. „Und die ­können noch froh sein, dass sie überhaupt einen Arbeitsvertrag haben. Das ist längst nicht mehr selbstverständlich."

Vielleicht nie eine Stelle

Im Moment, sagt Ballester, gehe man bei etwa 900 der 15.000 Ninis davon aus, dass sie unter psychischen Problemen leiden. In den kommenden Jahren dürften es noch mehr werden. „Für viele junge Leute gibt es keine Perspektive. Es gibt Ökonomen, die davon ausgehen, dass es für einige Leute keine Arbeitsstellen geben wird. Dass sie nutzlos sind und auch in Zukunft nutzlos bleiben werden. Wer mit Glück 600 Euro im Monat verdient, kann nicht von zu Hause ausziehen, gerade auf einem überteuerten Wohnungsmarkt."

Lange hat Xisco von der Familie gelebt. Die Mutter bezog Sozialhilfe, nachdem sie starb, lebte er von der kargen Rente seiner Großmutter. Wovon er jetzt lebt, weiß sein Onkel nicht. Sie haben in letzter Zeit kaum noch Kontakt. „Es ist schwierig, mit ihm darüber oder seine Zukunftspläne zu sprechen, da er dann meistens Geld will." Die Wohnung in Palma gehört Xisco, aber spätestens wenn die Geimeinschaftskosten für das Haus anfallen, muss sein Onkel einspringen. Warum er Xisco immer noch Geld gibt? „Ich fühle mich dazu verpflichtet. Ich bin die einzige Familie, die er noch hat."

Letzter Anker Familie

Der traditionelle Zusammenhalt der Familien in Südeuropa habe dazu geführt, dass diese die prekäre Situation auffangen können, so Ballester. „Allerdings ist die Kaufkraft der Familien im Zuge der Wirtschaftskrise drastisch zurückgegangen."

Während Xisco sich möglicherweise nicht mehr ändern wird, haben Verónica und Giovanni noch nicht aufgegeben. Sie möchte Ärztin werden, auch wenn sie für das Studium wahrscheinlich in ihr Heimatland zurück müsste. Er weiß es nicht so genau, sagt aber, er könnte sich eine Arbeit als Elektriker oder Klempner vorstellen. Beide wissen, dass ihnen nur ein Schulabschluss eine Perspektive bieten kann.

Lluís Ballester sagt, es habe sich in jüngster Zeit einiges gebessert. Programme wie „Garantía Juvenil" seien erfreulich. Auch die Sozial­hilfe sei für junge Leute angepasst worden. „Die wirtschaftsstarken Regionen Spanien wie das Baskenland und Madrid, überraschenderweise aber auch Galicien, schaffen es am besten, Jugendliche aus dem Nini-Loch zu holen. Unter anderem weil es das ganze Jahr Arbeit gibt und nicht nur in prekären Verhältnissen. Das steigert auch die Motivation. Auf den Balearen ist das nicht der Fall."

Appell an die Arbeitgeber

Ballester sieht die Arbeitgeber in der Pflicht: „Es wird gerne den Schulen, der Regierung oder den Jugendlichen selbst die Schuld für diese Misere gegeben. Tatsächlich wird sich aber hier nichts ändern, wenn die Arbeitgeber nicht bessere Jobs schaffen." Alle Studien würden belegen, dass die Schulabbrecherquote sinkt, sobald sich die Perspektive auf eine qualifizierte Beschäftigung erhöht."

Dass er damals die Chance mit dem Militär nicht genutzt habe, bereut Xisco. Zumindest hat er das seinem Onkel vor einiger Zeit gesagt. Dieser sieht bei sich selbst eine Mitschuld für die Situation seines Neffen: „Ich habe bei Xisco versagt, wie die Gesellschaft bei allen anderen versagt hat. Viel zu lange haben wir das Pro­blem belächelt, es trivialisiert. Und die Wirtschaftskrise hat jemandem wie Xisco den perfekten Grund gegeben, sich nicht zu ändern. Sie sind ohnehin schon als Faulenzer abgestempelt und die Jobs, die es gibt, sind nichts wert."

* Die Namen aller Ninis wurden von der Redaktion geändert