Als Anote Tong, Ex-Präsident von Kiribati, nach rund zwei Tagen Anreise von dem pazifischen Inselstaat im Anflug auf Mallorca war, staunte er nicht schlecht. „Ich sah die Berge und dachte: Das ist keine Insel, sondern ein Kontinent!" Schließlich kommt das 800 Quadratkilometer große Kiribati gerade einmal auf ein paar Meter Höhe über dem Meeresspiegel, während sich die Tramuntana auf Mallorca bis zu einer Höhe von 1.445 Meter auftürmt.

Aber trotz der vielen Unterschiede zwischen beiden Destinationen, die auf gegenüberliegenden Seiten der Weltkugel liegen, sind nun mal beides Inseln - und damit beide in einer weltweiten Schicksalsgemeinschaft, die vergangene Woche auf dem ersten World Island Congress in der Gemeinde Calvià beschworen wurde. Während Kiribati akut von den Folgen des Klimawandels bedroht ist und der ansteigende Meeresspiegel zu einer Existenzfrage wird, muss sich Mallorca zumindest Sorgen um seine Strände machen. „Wir Insel­bewohner bekommen die Folgen des Klimawandels am stärksten zu spüren", warnte Tong.

Wenn auch in unterschiedlicher Größenordnung, sind es ähnliche Probleme, die die Inseln weltweit umtreiben - das machten die mehr als 80 Experten deutlich, die während der zwei Tage im Hotel Meliá Calvà Beach zu Wort kamen. Die Veranstaltung mit rund 1.500 Teilnehmern von mehr als 120 Inseln ist ein Ableger des Smart City Expo World Congress, den Barcelona seit 2011 ausrichtet und der nach dem Willen von Calvià alljährlich hier stattfinden soll.

Bei der Premiere des Kongresses ging es jedoch nicht darum, ein gemeinsames Klagelied der weltweit rund 600 Millionen Inselbewohner anzustimmen, sondern voneinander Lösungen abzuschauen, gemeinsam Konzepte zu entwickeln und eine Insel-Lobby auf die Beine zu stellen, wie es Jorge Toledo forderte, Staatssekretär der spanischen Regierung für EU-Belange. Das sei nötig, um internationale Organisationen auf die speziellen Probleme der Inseln aufmerksam zu machen.

Standortnachteil Insel

Denn die Insellage ist ein entscheidender Wettbewerbsnachteil. Je schlechter Waren, Investitionen und Personen zirkulieren können, desto schlechter ist es um die Produktivität bestellt, wie Wirtschaftswissenschaftler Antoni Riera von der Balearen-Universität erklärte. Die europaweite Statistik zeigt, dass alle Inseln in Sachen Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu Festland-Standorten ihrer Staaten hinterherhinken. Die Balearen kommen im Vergleich zur Region Madrid nur auf 28 Prozent, die Kanaren auf knapp 23 Prozent. Korsika rangiert hinsichtlich Paris bei 35 Prozent. Im Vergleich der 263 EU-Regionen liegen die Inseln allesamt auf den hinteren Plätzen, die Balearen auf Rang 175.

Hinzu kommt, dass sich die Wirtschaft auf Inseln laut Riera meist einseitig auf Einzelhandel, Transport und Tourismus stützt - Branchen mit großteils geringer Berufsqualifizierung und Technologisierung. Konkret für Mallorca heißt das: Viele junge Leute brechen die Schule ab, um im Tourismus zu arbeiten, statt eine Ausbildung in zukunftsweisenden Branchen wie Informatik anzugehen. Das daraus folgende unterdurchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen werde auf den Balearen in den kommenden Jahren trotz des Tourismusbooms noch weiter nachlassen, wenn die Balearen-Wirtschaft nicht wettbewerbsfähiger werde, warnte Riera.

Wichtig dafür ist speziell die Fähigkeit, Talente anzulocken und zu halten. Hierfür reiche nicht die hohe Lebensqualität auf einer Insel, diese müsse auch internationale Karrierechancen eröffnen, wie Eduardo Rodriguez-Montemayor von der Business School Insead mit Verweis auf einen Index der weltweiten Top-Destinationen erklärte. Der Mix für den Erfolg lautet demnach: Investitionen in Verkehrsanbindung, Informationstechnologie und Bildungsstandorte sowie Anreize für internationale Unternehmen.

Basteln an der Insel-Lobby

Die wissenschaftlich nachgewiesenen Standortnachteile sind eine gute Basis für die Lobby-Arbeit etwa gegenüber der EU - auf den Inseln leben schließlich rund 15 Millionen Europäer, sie erwirtschaften drei Prozent des Bruttosozialprodukts. Doch erst mit den Verträgen von Amsterdam und Lissabon wurde die Sonderlage der Inseln berücksichtigt. Allerdings gibt es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: Während die sogenannten Gebiete in äußerster Randlage - die Kanaren, Azoren oder Madeira - reichlich gefördert werden, gingen die weniger entfernten Inseln wie die Balearen lange Zeit leer aus. Benachteiligt fühlen sich zudem die Inseln in der Peripherie mit „doppelter Insellage" wie etwa Formentera, die nicht direkt durch das Festland versorgt werden. Und dann wären da noch 1.640 kleine Inseln, deren 360.000 Bewohner in der European Small Islands Federation (ESIN) zusammenstehen.

Um die gemeinsamen Ziele zu erreichen, müssten die Inseln an einem Strang ziehen, forderte Joan Mesquida, früherer Staatssekretär für Tourismus und heute Chefstratege im Rathaus von Calvià: „Das ist wie in einer Soap Opera, in der die immer gleichen Probleme wiederkehren. Spanien sollte ein weltweites Netz der intelligenten Inseln anführen."

Daten kennen keine Distanzen

Smarte Lösungen heißt das Schlüsselwort, mit dem Inseln aufholen wollen. „Inseln stehen in der Verantwortung, Datenplattformen zu werden", so Juanjo Hierro von der IT-Stiftung Fiware - und zwar am besten auf der Basis von Big Data, Open Data und Realtime Data, sprich Plattformen mit frei nutzbaren, komplexen Echtzeitdaten.

Wie geografische Entfernungen in einer globalisierten und digitalisierten Welt an Bedeutung verlieren können, zeigte am eindrucksvollsten Julio Salas, Beauftragter für Digital-Wirtschaft in Chile, der ganz andere Probleme hat als Mallorcas Politiker. Die zum Staatsgebiet gehörende Osterinsel im Pazifik ist vom Festland so weit entfernt wie Portugal von Moskau, es verkehrt ein einziger Flieger am Tag. Und doch bekommen die knapp 6.000 Bewohner von Rapa Nui - so der ursprüngliche Name der Insel - staatliche Dienstleistungen wie in Santiago de Chile. Dank Satellitentechnik gibt es seit Ende 2016 eine schnelle Internetverbindung und kostenlose WLAN-Hotspots. Sie sind die Basis für virtuelle Behördengänge, Förderprogramme für E-Commerce, den Zugang zu einer digitalen ­Bibliothek oder Telemedizin-Anwendungen ­beispielsweise für Geburten. Aber auch bei der Entdeckung illegalen Fischfangs sollen die neuen Technologien helfen. „Wir stehen bei Rapa Nui in der Schuld", so Salas - nachdem die Insel bislang bei vielen Entwicklungen außen vor blieb, werde ihr jetzt ­Priorität eingeräumt.

Begrenzte Fläche und Entfernung seien kein Hemmschuh für die Entwicklung, wenn in Verkehrs- und Internetanbindung investiert werde, argumentierte Parag Khanna, indisch-amerikanischer Politikwissenschaftler, Strategieberater und Bestsellerautor. Die Inseln sollten sich ein Beispiel an Hotspots wie Hongkong oder Singapur nehmen, die trotz ihrer geringen territorialen Größe wirtschaftliche Riesen seien.

Angesichts der Anregungen aus aller Welt wollte sich auch Mallorcas Inselrat nicht ver­stecken und stellte sein eigenes digitales Innovationsprojekt vor, das seit rund einem Jahr läuft und in das neun Millionen Euro der spanischen Zentralregierung fließen. Das Ziel von „Smart Mallorca": ein Open-Data-Portal, das Transparenz und Bürgerbeteiligung stärkt und dessen Informationen in Echtzeitanwendungen etwa fürs Smartphone fließen.

„Intelligent" werden sollen in diesem Sinne Tunnelbeleuchtungen, Bushaltestellen, Touristeninformationen oder auch der Rettungsdienst dank Systemen zur Geolokalisierung. Apps informieren in Echtzeit über Wetterdaten, die Verkehrslage oder die Parkplatzbelegung an Orten mit langer Anfahrt und begrenztem Platz wie Buchten an der Steilküste („Smartparking"). Auch klimatische Bedingungen an Kulturdenkmälern sollen kontrolliert werden. Und vielleicht nimmt sich Mallorca ja auch ein Beispiel an der Kanaren-Insel La Palma, wo Sensoren in Echtzeit vor Waldbränden warnen sollen.

Jeder Insel ihr Tourismus

Voneinander lernen wollen die Inseln insbesondere beim Tourismus - wobei die Ziele sehr unterschiedlich gesteckt sind. Während Mallorca zunehmend mit seiner Attraktivität hadert und die Touristenströme ins Gleichgewicht bringen will, streben andere Inseln nach einer deutlichen Steigerung der Besucherzahlen. So etwa wollen die Kapverden vor der Westküste Afrikas die Zahl von derzeit rund 500.000 Urlaubern bis zum Jahr 2021 verdoppeln. Derzeit steuert der Tourismus knapp ein Viertel zum Bruttosozialprodukt bei. „Wir haben bislang nur eine einzige Tourismusfachschule", klagte Infrastrukturministerin Eunice Silva, die nun die Erfolgsrezepte der Balearen und der Kanaren mit nach Afrika nehmen kann.

Auf der Suche nach Strategien für nachhaltigen Tourismus statt Wachstum wird Mallorca wohl eher bei den Inseln auf der Nordhalbkugel fündig. So wollen etwa die Inseln an der Westküste Schottlands ihre Besucher für das Konzept der Entschleunigung gewinnen. Campen, Fischen, Yoga am Strand - das von der EU geförderte Drei-Jahres-Projekt lädt ein, den Lebensrhythmus zu verlangsamen.

Wo Mallorca nach Konzepten für Masse statt Klasse sucht, erledigen dies im Fall anderer Inseln ohnehin die geografische Entfernung und die Reisekosten. „Wir haben weniger Touristen, aber sie bleiben länger und geben mehr Geld aus", so Siew Gaetan, Architekt im östlich von Madagaskar gelegenen Inselstaat Mauritius. Der Tourismus ist nur eine von mehreren Wirtschaftssäulen, auf rund 1,2 Millionen Einwohner kommen weniger als eine Million Urlauber.

Die Inselwirtschaft auf der Basis neuer Technologien zu diversifizieren, war denn auch einer der Haupttipps der angereisten Insulaner an die Mallorquiner. Das ist freilich leichter gesagt als getan, wie der katalanische Städtebau-Experte Carlos García Delgado mit einer Portion Sarkasmus beklagte. Die Machtwechsel verhinderten eine langfristige Wirtschaftspolitik, und die Politiker seien mit dem Tagesgeschäft oder juristischen Problemen voll ausgelastet.

Energiepioniere

Mehr Ankündigungen als Ergebnisse gibt es derzeit auch in Sachen Nachhaltigkeit - hier Vorreiter zu sein, würden gerne viele Inseln über sich sagen. Nicht nur, dass ihr Interesse am Kampf gegen den Klimawandel stärker ausgeprägt ist. Die Inseln erscheinen auch als perfekte Experimentierfelder, um Nahrungsmittel wieder verstärkt lokal anzubauen, ein begrenztes Territorium mit Sonnen- und Windenergie zu versorgen oder mit Elektro-Autos ohne Kopfzerbrechen über die Akkuleistung zu allen Orten des Eilands zu gelangen.

„Wir wollen ein Labor für ein inselweites Netz mit Elektro-Autos werden", kündigte etwa Jorge Tomás an, Innovationsdezernent des Inselrats von La Palma. „Die Automobilkonzerne in diesem Sektor suchen Versuchsfelder wie unsere Insel." So ähnlich hat das auch die balearische Landesregierung angekündigt - derzeit wird mit den Gemeinden ein Netz von Ladestationen auf den Weg gebracht. Nicht umsonst waren auf dem Kongress auch spezialisierte Installationsfirmen präsent, die Aufträge so mancher Insel witterten.

Auf Mallorca macht die Elektromobilität freilich nur richtig Sinn, wenn die Energie auch aus erneuerbaren Energien bezogen wird - und hier kann sich Mallorca mit einem Erzeugungsanteil von weniger als drei Prozent noch einiges von anderen Inseln abschauen. „Mich hat vor allem beeindruckt, dass die nordeuropäischen Gäste eine echte Vision haben, wo sie hin wollen", meinte Joan Groizard, Generaldirektor für Energie in der balearischen Landesregierung, nach seiner Teilnahme an einer Debatte. Aber auch hier kann Mallorca nur bedingt von anderen lernen: Während Inselstaaten die gesetzlichen Rahmenbedingungen selbst festlegen, sind die Balearen an die am Oligopol der spanischen Energiewirtschaft orientierten Madrider Vorgaben gebunden.

Zumindest gibt es das Beispiel von El Hierro, der kleinsten Kanaren-Insel, die ihre rund 7.000 Bewohner mit einem kombinierten Wind-Wasser-Kraftwerk zu 100 Prozent mit erneuerbarer Energie versorgen soll. Für Notfälle steht aber auch hier ein Dieselgenerator bereit. „Inseln sind gute Standorte für erneuerbare Energien", so Staatssekretär Toledo, „aber sie brauchen eine Absicherung oder eine Anbindung ans Stromnetz des Festlands." Auch diese Voraussetzung gibt es auf Mallorca - das Stromkabel zum Festland stellt sicher, dass auch während der Hauptsaison keine Klimaanlage ausfällt.

Ähnlich wie Mallorca schlagen sich auch andere Inseln mit der Autoflut herum. Doch es gibt ehrgeizige Pläne. Auf Mauritius sollen durch eine „smarte" Städteplanung Wohn- und Arbeitsorte zusammenrücken, wie Architekt Gaetan erklärte. Und auf Réunion, dem französischen Überseedépartement im Indischen Ozean, soll eine Schwebebahn die Verkehrsprobleme lösen. Das Projekt eines französischen Start-ups sehe fahrerlose Kabinen mit Solarpaneelen auf dem Dach vor, erklärte die Bürgermeisterin der Gemeinde La Possession, Vanessa Miranville. Der Vorteil: Der Bahn stehe keine Infrastruktur im Wege, und sie verbrauche keinen zusätzlichen Platz, wie die Rednerin auf Nachfrage von Palmas Verkehrsdezernent Joan Ferrer erklärte.

„Wir alle sind Teil des Problems und der Lösung", so Tong. Er stellte den vielen Plattitüten rund um Globalisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit auf dem Kongress moralische Worte entgegen, die auch gerade Mallorca in die Pflicht nehmen. Er verstehe nicht, wie sich Länder wegen einer befürchteten Verringerung des Wirtschaftswachstums gegen Klima­schutzmaßnahmen aussprechen könnten, wenn gleichzeitig die Existenz anderer Länder bedroht sei.