Auf dem Bildschirm von Claudio Mirasso ist eine Weltkarte zu sehen, zunächst nur mit einigen roten Punkten auf der Insel Mallorca. Die Punkte markieren die Position von Urlaubern, und die Illustration simuliert deren Mobilität in den 1.000 Tagen nach ihrem Mallorca-Aufenthalt. Die Simulation startet, und die Punkte breiten sich auf der gesamten Weltkarte aus - vor allem in Europa, aber auch in Südamerika, Japan oder auf den Philippinen tauchen Markierungen auf.

Die Illustration ist eines von vielen Beispielen dafür, dass die Forschung der inzwischen knapp 80 Wissenschaftler im Gebäude Instituts Universitaris de Recerca auf dem Gelände der Balearen-Universität nicht im Elfenbeinturm stattfindet. Seit inzwischen zehn Jahren besteht das Institut für interdisziplinäre Physik und komplexe Systeme, kurz IFISC. Und in dieser Zeit hat es sich nicht nur interna­tionales Ansehen erworben, sondern auch aktuelle Schlüsselthemen wie künstliche Intelligenz oder Big Data besetzt.

Die Mobilitätsstudie der Urlauber etwa beruht auf den von diesen verschickten Tweets. Zehn Millionen davon lade man täglich he­runter, um sie anschließend auszuwerten, erklärt Mirasso, Physiker und Kommunikationsbeauftragter am IFISC. Diese Zahl von Tweets überlasse der Kurznachrichtendienst Twitter der Wissenschaft. Und dank GPS-Funktion auf dem Handy ließen sich die jeweiligen Standorte der Twitterer ermitteln.

Mehr als die Summe der Teile

Was genau erforscht das IFISC also? Urlauberströme? Digitales Gezwitscher? Die Antwort auf diese häufige Frage haben sich die Forscher gut zurechtgelegt, und das Paradebeispiel ist und bleibt das menschliche Gehirn. Betrachten Physiker und Biologen auf der einen Seite das Verhalten der einzelnen Neuronen und studieren Psychologen auf der anderen Seite das menschliche Bewusstsein, geht es den IFISC-Forschern um das Ganze: Das Gesamtverhalten ist - frei nach Aristoteles - mehr als die Summe ihrer Teile, es entsteht durch deren Wechselwirkung. Und da es solche komplexen Systeme in vielen Bereichen gibt, wie etwa der Ökologie, den Quantentechnologien oder der Sprachwissenschaft, wird die Arbeit zur interdisziplinären Angelegenheit - sei es beim Blick auf den Verkehr (Autos), das Internet (Interaktionen zwischen Computern) oder die Gesellschaft (Individuen). „Wir sind Physiker und nutzen unsere Methoden, um sie in anderen Bereichen anzuwenden", so Mirasso.

Ursprünge im IMEDEA

Hervorgegangen war das IFISC vor inzwischen zehn Jahren aus dem IMEDEA, dem Institut in Esporles, das von der Balearen-Universtiät (UIB) und dem spanischem Wissenschaftsrat (CSIC) getragen und meistens mit der Meeresforschung in Zusammenhang gebracht wird. Streng genommen handelt es sich aber um das „Mittelmeer-Institut für weitergehende Studien", in dem 1990 eine eigene Abteilung für interdisziplinäre Physikstudien eingerichtet worden war. Weil diese aber nicht so recht zur allgemeinen Ausrichtung des IMEDEA passte, wurde daraus im Jahr 2007 nach einer Evaluierung durch den CSIC ein eigenständiges Institut. Zwei Jahre später bezogen die Mitarbeiter dann ein eigenes Gebäude auf dem UIB-Campus.

Mit den komplexen Systemen wandte sich das Institut einem ganz neuen Forschungsbereich zu, der sich als zukunftsweisend he­rausstellen sollte. „In den zehn Jahren seit seiner Gründung hat sich das IFISC gemäß internationaler Gutachter zu einem der weltweit führenden Institute auf dem Gebiet der Physik komplexer Systeme und interdisziplinärer Forschung entwickelt", stellt Ingo Fischer fest. Der Deutsche ist seit 2009 Professor am IFISC.

Die Strahlkraft zeigte auch ein einwöchiger Kongress Ende vergangenen Jahres: Zum Jubiläum versammelten sich auf der Insel eine Woche lang 200 Forscher aus 28 Ländern. Darunter seien die Spitzenvertreter ihres Fachs gewesen, erklärt Institutsleiter Maxi San Miguel - kein einziger haben die Einladung des IFISC ausgeschlagen.

International aufgestellt

Das Institut ist nicht nur im Ausland renommiert, sondern auch selbst durchgehend international. 18 Herkunftsländer der Mitarbeiter hat Institutssprecher Adrián García gezählt. Sie kommen aus dem europäischen Ausland, aber auch aus Südamerika, Japan, Korea oder den Philippinen.

Für deutsche Präsenz sorgt vor allem Ingo Fischer. Wichtigster Pluspunkt für ihn: die Atmosphäre der Zusammenarbeit und Internationalität, die sich das Institut gewahrt und ausgebaut habe. „Damit meine ich nicht nur die Zusammenarbeit mit externen Instituten und Universitäten, sondern auch das enge Netzwerk interner Kollaborationen", so der Physiker.

Eine ganze Reihe deutscher Forscher hat im IFISC Station gemacht. Man arbeite eng mit deutschen Universitäten, Instituten und Wissenschaftlern zusammen und habe gemeinsame Forschungsprojekte, so Fischer. „Allein in meiner Gruppe gibt es zurzeit einen deutschen Doktoranden, einen deutschen Gastwissenschaftler, und wir hatten 2017 drei deutsche Erasmus-Studenten."

Fischer arbeitet mit seiner Gruppe zurzeit zum einen an Grundlagenprojekten. Diese konzentrieren sich auf die Eigenschaften neuartiger Laserquellen aus Halbleitermaterialien und deren Verkopplung in komplexen Netzwerken. Die Erkenntnisse kommen dann im Labor zur Anwendung. Wo der Laie nur Kabel, Steckplätze und Messgeräte sieht, wird für neuartige Computer geforscht, die den Eigenschaften des Gehirns nachgebildet sind. Grundlage ist die Photonik - statt elektronisch werden Informationen optisch übertragen und verarbeitet. „Wir arbeiten an der Entwicklung von etwas, was man als künstliche Intelligenz mit Licht bezeichnen könnte." Als wichtigste Arbeit sieht der Deutsche denn auch ein europäisches Projekt, in dem man Pionierleistungen zu den „Lichtcomputern" abgeliefert habe. Auf diese baue man nun auf.

Mit Datenverarbeitung nach dem Vorbild des Gehirns beschäftigt sich derzeit auch Doktorand Moritz Pflüger. Der 29-Jährige, der zuvor in München Physik studierte, ist seit März vergangenen Jahres am IFISC. Bei seinem Promotionsprojekt sollen 25 kleine Laser zu einem Netzwerk verknüpft werden. Diese sollen dann die Funktion von Neuronen, also Gehirnzellen, imitieren. Obwohl neuronale Netzwerke schon sehr erfolgreich mit Computerprogrammen simuliert werden, hat dieser neue Hardware-Ansatz laut Pflüger einen großen möglichen Vorteil: Es könnte viel Energie gespart werden.Mühsame Finanzierung

Der Deutsche kann dank eines Stipendiums der Volkswagenstiftung für einen Zeitraum von drei Jahren am IFISC promovieren. Wie auch bei vielen anderen Wissenschaftlern auf Mallorca und in ganz Spanien ist die staatliche Unterstützung seit der Wirtschaftskrise auf ein Minimum gesunken. Das Budget, das die Balearen-Universität dem IFISC zur Verfügung stellt, würde nicht mal ausreichen, um einen Doktoranden ein Jahr lang zu beschäftigen, meint Claudio Mirasso. Und von der spanischen Zentralregierung sei auch nicht viel mehr zu erwarten.

Bezahlt werde projektbezogen - was nicht nur die Grundlagenforschung erschwere, sondern auch die Planbarkeit. Viele aussichtsreiche Doktoranden habe man deswegen in den vergangenen Jahren wieder ziehen lassen müssen. Und auch die Modernisierung der Ausstattung wird zur großen He­rausforderung. Fischer verweist auf das Labor: „Es ist extrem schwierig geworden, wichtige Wartungsarbeiten und die Erneuerung der Infrastruktur zu finanzieren."

Das nötige Geld kommt zum einen von der EU - wobei unter den Institutionen, die sich bewerben, harte Konkurrenz herrsche. „Bei den Grundlagenprojekten ist die Förderrate zeitweise auf 1,5 Prozent geschrumpft", so Ingo Fischer. „Dann wird aus der Projektvergabe schon fast eine Lotterie." Andererseits fließt Geld von Unternehmen, für die das IFISC Anwendungen entwickelt.

Praktische Anwendungen

Ein Beispiel einer solchen Zusammenarbeit ist etwa ein „intelligentes" Hemd, das seltene Herzrhythmusstörungen aufspürt, die gesundheitlich gefährlich werden können. In das Kleidungsstück ist ein EKG integriert, bei dem Entwicklungen der künstlichen Intelligenz zum Einsatz kommen. Es soll in Zukunft Ärzte bei der Dia­gnose unterstützen oder Patienten frühzeitig warnen.

Auch die anderen Projekte versprechen praktischen Nutzen und hohe Relevanz. Mitarbeiter beschäftigen sich etwa mit der Ausbreitung von Meinungen, die auch Wahlen entscheiden können: Wie kommen die Millionen von Followern der Twitter-Stars zusammen?

Auch an Lösungen für das komplexe System des Verkehrs wird im IFISC gebastelt. Twitter war des Weiteren die Grundlage, um die Urlauberströme auf Mallorca selbst zu untersuchen: Welche Nationalitäten suchen welche Tourismuszonen auf? Dass es die Deutschen an die Playa de Palma und die Briten nach Magaluf zieht, dürfte auch ohne die Auftragsarbeit für den Inselrat bekannt gewesen sein, wie Mirasso einräumt. „Aber jetzt können wir diese Ströme inselweit quantifizieren."