Juan zieht einen Müllcontainer hinter sich her. Obwohl er Rollen hat und fast leer ist, sieht man dem kleinen schmächtigen Mann die Anstrengung an. Alle paar Schritte hält er inne, sammelt Kraft und lässt den Blick schweifen. Seine Stimme ist dünn, seine Kleidung dreckig und verschlissen. Sie steht im Kontrast zu der einfachen, aber höflichen Ausdrucksweise, der sich Juan* bedient, wenn er erzählt. Vor 45 Jahren sei er hier geboren. In Son Banya, dem Elendsviertel in Palmas Hinterland, dem Drogen-Supermarkt von Mallorca, dem Schandfleck der Insel, der jedes gewöhnliche Brennpunktviertel Europas in den Schatten stellt. Jener Ortschaft, die Palmas Rathaus innerhalb der nächsten drei Jahre Stück für Stück abreißen lassen will.

Müllberge häufen sich auf der freien Fläche vor den Baracken, auch zahlreiche ausgebrannte Autowracks stehen herum. Juan zieht seinen Container daran vorbei. Er räume nicht auf, das habe schon lange keiner mehr getan. Er suche im Abfall nach Brauchbarem. Metall oder Baumaterial. „Vier Euro geben sie mir dafür am Tag, manchmal auch fünf oder sechs", sagt Juan. Wen er mit sie meint, will er nicht weiter ausführen. „Die im Dorf", sagt er, „die, die viel haben." In Son Banya sei der Unterschied riesig. „Die, die etwas besitzen, besitzen sehr viel. Wer arm ist, hat gar nichts." Er sei vor Kurzem bei seiner Mutter ausgezogen, berichtet Juan, und lächelt müde. „Mit 45 Jahren muss man doch mal in die eigenen vier Wände", sagt er. Vier Wände, ein Dach, eine Matratze und ein Regal, das ist alles, was sich in der dreckigen Kammer hinter dem löchrigen Holzverschlag befindet, den Juan nach kurzem Zögern für die MZ öffnet. Kein Klo, keine Dusche, keine Küche.

Maximal fünf Jahre Wohngeld

Juan gehört zu denen, die nichts haben. Zu denen, die von dem vergangene Woche im Stadtrat beschlossenen Abriss der Elendssiedlung und der geplanten Umsiedlung der Einwohner profitieren sollen. Zu denen, die die Gelegenheit bekommen sollen, dem Elend zu entfliehen. Eigentlich. Doch wird das 5,4 Millionen Euro schwere Programm, bei dem die Ärmsten in andere Stadtteile integriert und für maximal fünf Jahre Wohngeld in Höhe von bis zu 1.000 Euro monatlich bekommen sollen, auch Juan berücksichtigen?

Wer dabei sein will, muss bestimmte Bedingungen erfüllen, einen Sozialvertrag unterschreiben, in dem die Zusammenarbeit mit den Behörden geregelt ist. Um sich auf dem Arbeitsmarkt und im „realen Leben" zu integrieren. Wer Eigentum hat oder ausstehende Anzeigen wegen Drogenhandels, darf nicht teilnehmen. Juan war 15 Jahre seines Lebens im Gefängnis. Warum, will er nicht verraten. „Spielt das noch eine Rolle", fragt er, zuckt mit den Schultern, hilflos. Die restlichen 30 Jahre lebte er ausschließlich in der Siedlung, ein anderes Leben kennt er nicht. „Hier ist mein Zuhause", sagt er fast flehentlich. „Wo soll ich denn sonst hin?"

Die Überlegung, Son Banya abzureißen, ist nicht neu. Schon bei der Gründung, damals Ende der 60er-Jahre, als Franco in ganz Spanien Siedlungen für die spanischen Roma, die gitanos bauen ließ, um sie von der Straße zu holen, waren sie nur als temporäre Lösung gedacht. Doch während die anderen Ghettos spanienweit nach und nach aufgelöst wurden, wuchs in Son Banya Generation um Generation heran. Zwischen Müll, Drogen und Kriminalität. Die Ortspolizei betritt die Siedlung schon seit Jahren nicht mehr. Guardia Civil und Nationalpolizei beschränken sich auf eine Streife an der Zufahrt und gelegentliche Großrazzien, wie der am 11. Januar). Mit Sondereinsatzkräften, Helikop­tern und monatelangen Vorbereitungen. Dann werden die Baracken gestürmt, die Junkies aus der Siedlung geschickt, die Drogen und das Bargeld konfisziert. Zumindest jenes, welches nicht versteckt oder im Klo heruntergespült wird, während sich die Einsatzkräfte an den Panzertüren vieler Baracken abarbeiten. Nicht jeder wohnt hier wie Juan hinter einem Holzverschlag, in einigen Häusern soll es nur so von Luxus strotzen, sagt man.

„Operation Goodbye" hieß der Einsatz am Donnerstag. Auf Wiedersehen. Ja, ein Wiedersehen wird es sicherlich geben, gab es immer, seit sich Son Banya in den 80er-Jahren zur Drogenhochburg der Insel gemausert hat. Tausende von Autos - alte Karren und Luxusschlitten - sollen laut Medienberichten allein in den Weihnachtsfeiertagen 2017 hier vorgefahren sein. Ihre Insassen kauften von den Familienclans, die den Ort beherrschen, Heroin, Kokain und alles andere, was knallt.

Der deutschstämmige Mallorquiner Eberhard Grosske (Esquerra Unida) war als Sozialdezernent in Palmas Rathaus einer derer, die 2011 die „Ausmerzung" der Siedlung im folgenden Jahr versprachen. Die Stadt riss damals etwa 50 Bauten ab. Angeleitet von den Clan-Chefs bauten Junkies und andere arme Schlucker wie Juan die meisten davon schnell wieder auf. „Ein paar Familien haben wir damals umgesiedelt, aber dann war die Legislaturperiode zu Ende, und die PP kam wieder an die Macht, und hat alle weiteren Pläne auf Eis gelegt", so Grosske in einem Telefoninterview. Dass das Vorhaben damals missglückte, findet er nicht. „Es war ein wichtiger erster Schritt." Genau wie heute habe auch damals das Wohl der Kinder im Vordergrund gestanden.

Die Kinder werden auf Schulen in anderen Stadtteilen verteilt. Doch nicht alle gehen hin. Eine Gruppe von etwa Neunjährigen zieht es mittags um zwölf offensichtlich vor, mit einem leblosen, ungerupften Hahn durch die holprigen Straßen der Siedlung zu laufen, und draußen vor dem Ort mit getrocknetem Müll zu zündeln. „Ihre Integration in die Gesellschaft ist perfekt machbar", beharrt Grosske.

Erste Abrisse Mitte April

Diesmal soll alles anders laufen, diesmal soll wirklich Schluss sein mit Son Banya, beteuert die aktuelle Leiterin der Sozialdienste im Rathaus, Mercè Borrás. Sie hat den Rückhalt aller Parteien: Am Freitag (12.1.) stimmte der Stadtrat einstimmig für den schrittweisen Abriss. Los gehen soll es Mitte April mit 45 der 117 bewohnten Baracken. „Die Familien werden auf unterschiedliche Stadtteile verteilt und können selbst mitentscheiden", so Borràs. Nur in die Brennpunktviertel Son Gotleu, La Soledat, Verge de Lluc und Son Ximelis dürfen sie nicht. Damit sich nicht neue Ghettos bilden. „Es geht uns in erster Linie um die 196 Kinder im Dorf, sie haben dort keine Zukunft", betont auch Borràs. „Und natürlich um alle anderen, die nichts haben und nicht kriminell sind."

Ángel* könnte dazugehören - zumindest nach eigenen Angaben. Der selbstsicher und kräftig wirkende Mann Anfang 40 steht in der Mittagssonne vor seiner Baracke. Er ist gepflegt, ganz anders als die Fassade seines Hauses. Einblicke ins Innere möchte er nicht preisgeben, seine Meinung über die Razzia am Donnerstag dafür umso bereitwilliger. „Die sind einfach reingeplatzt und haben ein Loch in die Wand gehauen", ereifert er sich und deutet auf eine Stelle in der Außenwand, die offensichtlich erst vor wenigen Tagen und recht provisorisch gestopft worden ist. „Meine Kinder haben sich zu Tode erschreckt." Gefunden hätten die Polizisten bei ihm nichts, weder Drogen, noch Waffen, noch Bargeld. „Wir sind gute Menschen, wir tun niemandem was, wir sind nicht kriminell", beteuert er. Eine Umsiedlung und Wohnungsgeld vom Staat, das würde Ángel schon gefallen. „Dann würden uns solche Razzien vielleicht erspart bleiben", sagt er.

„Aber wir haben schon gehört, dass man uns in den anderen Vierteln gar nicht haben will", wendet ein Halbwüchsiger ein, der sich dazugesellt und ebenso gepflegt aussieht wie Ángel. Der wiegt abwägend den Kopf. „Ich weiß nicht. Es wäre trotzdem schön, hier rauszukommen, um nicht mehr ständig beschuldigt zu werden, kriminell zu sein", findet er. Das Thema Drogen schneidet er nicht mehr an. Generell scheint es keines zu sein, was man im Dorf gerne mit Journalisten bespricht. „Wir wollen keine Reporter, weg hier", ruft eine Frau, die vor einer Baracke sitzt.

Xavier Mesquida redet viel über Drogen. Der Arzt für Mikrobiologie am Krankenhaus Manacor arbeitet ehrenamtlich für die Vereinigung Médicos del Mundo (Ärzte der Welt). Auch an diesem Mittag haben einige Freiwillige seines Teams den weißen Bulli der NGO am Eingang der Siedlung geparkt, nur wenige Meter von Ángels stählerner ­Eingangstür entfernt. Als der Stadtbus 18, der regelmäßig von Palmas Zentrum zur Endstation Son Riera - so der offizielle Name Son Banyas - fährt, ganz in der Nähe hält und Fahrgäste aussteigen, stehen die Ehrenamtler bereit. Sie verteilen saubere Spritzen an die ­ankommenden Junkies, die es bis zum poblado geschafft haben, im Gegenzug geben diese ihnen gebrauchte Spritzen ab. So soll die Ausbreitung von HIV, Hepatitis und anderen Infektionen und Viren eingedämmt werden.

„Rund 45.000 Spritzen haben wir im Jahr 2016 mit dem Programm eingesammelt. Im Stadtbild merkt man das, es liegen kaum noch welche herum", so Xavier Mesquida. Seit 14 Jahren gibt es das Spritzen-Tausch-Programm, teilweise wird es aus öffentlichen Geldern finanziert, die Arbeit machen die Freiwilligen. „Drogen und die damit verbundene Kriminalität waren in den 80er-Jahren eines der Hauptprobleme der spanischen Gesellschaft. Zumindest in den Köpfen ist das heute anders", so Mesquida. Dabei nehmen noch immer übers Jahr hinweg etwa 800 Drogensüchtige saubere Spritzen in Son Banya entgegen, viele davon regelmäßig.

Eine Spritze und ein O-Saft

Einer von ihnen, ein Mann Anfang 50, der torkelnd aus dem Bus gestiegen und kurz in der Siedlung verschwunden war, nimmt von den Helfern neben der Spritze auch dankend einen Becher Orangensaft entgegen. Die Nadel setzt er dann gleich zwischen den Müllbergen vor dem Ghetto an, die Kindergruppe mit dem toten Hahn beachtet ihn gar nicht. Andere Junkies aus der Gegend verschwinden in den Baracken. „Vor etwa 15 Jahren blieben noch mehrere Dutzend Drogenabhängige dauerhaft hier, sie hausten in Verschlägen und bekamen Drogen für niedere Arbeiten", so Mesquida. Mittlerweile seien es nicht mehr so viele. „Fast alle Konsumenten kommen nur zum Kauf und ­verschwinden dann wieder."

Manchmal suche das Rathaus mit den Ehrenamtlichen von Médicos del Mundo das Gespräch, wolle Ratschläge haben. „Ich glaube, dieses Mal meinen sie es ernst mit dem Abriss", sagt Mesquida nachdenklich. Der Drogenhandel werde dann in andere Viertel umziehen, da ist er sich sicher. Nicht, dass er gegen den Abriss sei. „Aber ich persönlich finde es kritisch, zwischen Bewohnern zu selektieren, die Unterstützung bekommen sollen, und jenen, die einfach hinausgeworfen werden." Weil nicht in jedem Fall festzustellen sei, wer wirklich in Drogengeschäfte und andere kriminelle Machenschaften verwickelt, wer Opfer und wer Täter ist. Und vor allem, weil dabei das Risiko bestehe, dass die Menschlichkeit auf der Strecke bleibe. Wer kümmere sich dann um die verbliebenen Süchtigen, die im Dorf hausen, ohne als Bewohner zu gelten? Und um Menschen wie Juan, die kein Leben außerhalb von Son Banya kennen? Die unter dem Elend im poblado leiden, aber es dennoch als Heimat sehen und „draußen" auch mit finanzieller Unterstützung wohl niemals Fuß fassen werden?

„Du hast einen Marienkäfer im Haar", sagt Ángel, greift nach dem Tier und sieht ihm nach, als es davon fliegt, in Richtung des neuen Einkaufszentrums Fan Mallorca Shopping, dem schicken Konsumtempel, der bei strammem Schritt nur fünf Gehminuten von Son Banya entfernt ist. „Wir können uns etwas wünschen, Marienkäfer bringen Glück", sagt Ángel. Glück. Es scheint weiter entfernt zu sein, als fünf Minuten. Welten entfernt.

* Namen von der Redaktion geändert.

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