Geschafft! Endlich steht Jordi Zhang. Er rudert zwar noch mit den Armen, wirkt nun aber deutlich sicherer auf dem zwischen zwei Felsen in der Cala Varques gespannten 37 Meter langen Seil. Drei Anläufe hat es gebraucht. Dann konnte er das Gleichgewicht auf dem nur zweieinhalb Zentimeter breiten elastischen Seil halten. Bevor er die ersten Schritte macht, hält er einige Sekunden inne, um sich an dessen Vibrationen zu gewöhnen und seinen Körper auszubalancieren. Zwölf Meter befindet er sich über dem Abgrund, der in diesem Fall das Meer ist.

Zhang ist Slackliner. „Slackline" ist zumindest der Über­begriff für das auf unterschiedlicher Höhe aufgespannte Band, auf dem er sich so gern bewegt. Heute ist er in rund zwölf Metern Höhe auf einer sogenannten Midline unterwegs. Ab über 50 Metern spricht man von Highlines. Zhangs persönlicher Rekord liegt bei 32 Schritten auf einer 165 Meter langen Leine, aufgespannt in über 100 Höhenmetern in Pietra Di Bismantova in Italien.

Angefangen hat er, wie wohl die meisten Highliner, deutlich näher am Boden, in einem Park. Im Sommer 2013 hatte sein Kumpel Juan Pedro Velasco ein Seil mitgebracht, mit dem man eigentlich die Ladung in einem Lkw befestigt. „Wir haben es an Bäumen festgebunden und versucht, darauf zu balancieren." Dabei habe er Blut geleckt.

Bis er in schwindelerregender Höhe balancierte, dauerte es noch eine Weile. Durch Videos im Internet und Fragen an Gleichgesinnte in entsprechenden Communitys hat Zhang seine Balancier-Künste über die Jahre hinweg immer weiter verbessert und ist mutiger geworden.

Neben dem Slacklining im Park hat er auch die zahlreichen anderen Arten des Sports ausprobiert, wie das Rodeolining - dabei hängt die Leine extrem locker in U-Form durch. Auf ihr stehend kann man beispielsweise von einer auf die andere Seite schaukeln. Auch das Tricklining, bei dem man sich etwa mit seinem Oberkörper vorwärts auf die Slackline fallen lässt, hat er durchexerziert.

Seine erste Slackline über dem Wasser hat er zunächst in Brust­höhe gespannt. Vor zweieinhalb Jahren stand Zhang dann zum ersten Mal vor einer Highline. „Dabei habe ich vor allem eines gefühlt: Angst", erinnert er sich. „Ich war wirklich weit weg von meiner Komfortzone. Zuerst habe ich mich einfach nur draufgesetzt und gar nicht daran gedacht, irgendwann aufzustehen. Doch dein einziger Feind beim Highlining bist du selbst. Es geht darum, seine Ängste zu überwinden. Es ist tatsächlich eher eine mentale als eine körperliche Herausforderung", schildert Zhang. Dennoch müsse man in Sachen Konzentration stets hundertprozentig bei der Sache sein. „Wenn du da oben stehst, kannst du nicht daran denken, ob du heute Abend pollo isst oder ­etwas anderes", sagt Zhang.

Obwohl es auf den ersten Blick nicht den Anschein macht, sei der Gang über Highlines laut dem Allround-Slackliner sicherer als das Ausüben von Tricks auf Slacklines in Bodennähe, wo man schon einmal mehr Risiken eingeht. Wenn man hoch hinaus will, verwende man auch besseres Material, das umfangreich getestet worden sei. „Es gibt beim Highlining auch immer eine Back-up-Slackline", erklärt Zhang. Auch deswegen ist das Anbringen der hohen Slacklines mit 30 bis 45 Minuten sehr zeitaufwendig und manchmal eine wahre Geduldsprobe.

Vor dem Aufbau sollte man zuallererst den Zustand seines Materials noch mal genau inspizieren. „War eine Leine beispielsweise oft im Salzwasser, würde ich sie fürs Highlining nicht mehr verwenden", so Zhang. Rund 1.000 Euro hat er für seine Ausrüstung ausgegeben. „An der Qualität sollte man nicht sparen. Es geht schließlich um das eigene Leben", findet der in Barcelona geborene Mann, der seit 21 Jahren auf Mallorca lebt.

Nach dem Materialcheck wird der Ort genau untersucht. Beim Anbringen von Slacklines gibt es generell zwei Möglichkeiten: Entweder man nutzt die natürlichen Gegebenheiten wie Bäume. Oder man findet von Kletterern an einigen Stellen schon vorpräparierte ins Gestein hineingebohrte Schrauben.

Auch in der Cala Varques gibt es an zwei Felsen derartige Schrauben. Hier liest man auf einem Warnschild zwar in großen Buchstaben „von der Steilküste ins Wasser springen verboten", von Slacklines steht dort jedoch nichts. Dank der bereits vorhandenen Vorrichtungen und da die Ausbuchtung der Felsen nicht so stark ist, kann man hier schnell loslegen. Dennoch ist Vorsicht geboten: „Die Felsen sind scharfkantig und reiben die Slacklines auf. Auch deswegen sollte man immer Freunde, die einem helfen, mitnehmen."

An anderen Orten sind die Dis­tanzen zwischen den Felsen so groß, dass man die Slack­line entweder mit einem Bogen ans andere Ufer schießen oder sich mit einem Kajak oder einer Drohne behelfen muss. An der Drohne wird zunächst eine leichtere Angelschnur befestigt und ans andere Ufer geflogen. An ihr befestigt dann ein zweiter Helfer eine schwerere Slackline und zieht sie zum anderen Ufer zurück.

Dann ist das Prozedere im Falle von Vorrichtungen immer das gleiche: An drei Schrauben wird ein in drei gleich lange Teile aufgesplittetes Seil aufgespannt und mit Karabiner­haken und Muttern befestigt (siehe Foto oben rechts). Am Ende der Stricke wird eine soge­nannte Weblock montiert. Mit ihrer Hilfe kann später die Spannung der Slackline reguliert werden. Durch die Dreiteilung wird das Gewicht aufgeteilt und das ­Material entlastet.

Da die Stellen oft schwer zu erreichen sind, ist Jordi stets mit einer sogenannten Daisychain gesichert. Es ist einer von ­vielen englischen Begriffen aus der Slackline-Szene. Um die beiden installierten Vorrichtungen wickelt er dann ein Filzband und legt Handtücher darunter, damit die Slacklines später, wenn er auf ihnen balanciert, nicht am Felsen reiben. Im Anschluss daran wird die 37 Meter lange Slackline zuerst in die Weblock auf der einen Seite eingehakt. Bevor die andere Seite dran ist, zieht Zhang die beiden Slack­lines noch durch den an seinem Klettergeschirr befestigten Ring. So wird er später abgesichert sein.

Die ersten Schaulustigen setzen sich auf die Felsen, um ihn bei der Installation zu beobachten. „Was macht der da?", fragt eine Frau ihren Freund. „Slacklining", entgegnet er ihr. „Verrückt", staunt sie.

Seit einem halben Jahr geht es für Zhang regelmäßig hoch hinaus. Die Reaktion der Menschen sei immer die gleiche: „Sie verstehen Highlining nicht, da es ein neuer Sport im Bereich des Slacklining ist. Obwohl es keine offizielle Freizeitbeschäftigung ist, gibt es momentan einen Trend, Slacklining in der Rehabilitation oder für Fitness-Kurse zu nutzen", berichtet Zhang.

Für ihn ist Slacklining ein Lebensstil, an den er sich auch durch sein Tattoo am rechten Arm gern täglich erinnert. Es zeigt ihn inklusive seiner Rasta-Haare auf einer schwarzen Linie um seinen Arm herum balancierend. „Slacklining hat mir ex­trem viel gegeben. Ich war früher sehr schüchtern und bin jetzt offener und geselliger. Außerdem reise ich sehr gern und freue mich über neue Freundschaften, die dabei entstehen. Das Slacklining hat mich an Orte gebracht, an die ich sonst nie gekommen wäre", schwärmt er.

Da ihm das Slacklining so viel bedeutet, will er bald Workshops geben und Shows machen, damit er langfristig davon leben kann. Bislang lebe er von seinem Ersparten, ein Forstwissenschaftsstudium habe er abgebrochen. Ein paar Mal hat er Touristen seine Kunst schon nähergebracht. Über die lokalen Facebook-Gruppen „Slackline Mallorca" und „Baleares Slacklife", in denen ein Großteil der Postings von ihm kommt, kontaktieren ihn viele an der Szene Interessierte. Erst vor Kurzem war er eine Woche lang mit einer Gruppe aus Polen unterwegs.

Wenn Zhang wegfährt, nutzt auch er die Gruppen, um sich über Slackline-Hotspots zu informieren und Aktive aus anderen Ländern kennenzulernen. An den Orten auf Mallorca habe er sich nämlich schon etwas sattgesehen. Während es in Spanien noch keine Slackline-Festivals gebe, sei die Szene in anderen europäischen Ländern deutlich aktiver. Er schwärmt beispielsweise von seine Besuchen in Frankreich und Italien.

„Das Niveau wird immer höher und natürlich hoffe auch ich, dass ich mich immer weiter verbessern kann und mich das Slacklining ein Leben lang begleiten wird. Wenn meine Kinder später aber lieber Skateboard fahren oder zeichnen wollen, habe ich damit auch kein ­Pro­blem", scherzt Zhang.