Was geht aus der Sicht eines Wissenschaftlers vor, wenn 75.000 Fans in ein Stadion strömen, um die Vorstellung eines neuen Spielers zu erleben, wie es am 6.7. im Bernabéu-Stadion geschah, als Real Madrid den frisch eingekauften Weltstar Cristiano Ronaldo präsentierte? Und ist ein vergleichbares Spektakel in Deutschland denkbar? Die MZ sprach mit dem auf Unterhaltungskultur spezia­lisierten Soziologen und Buchautor Sacha Szabo.

Fußball wird oft als Ersatzreligion bezeichnet. Einverstanden?

Fußball hat schon aus historischer Sicht viel mit Religion zu tun. Bei den Azteken und Mayas hatten Ballspiele einen rituellen Hintergrund. Im Mittelalter gab es in Europa eine Ballmeditation, bei der Mönche einander den Ball zuspielten.

Und moderner Fußball?

Ist aus soziologischer Sicht sehr spannend. In Deutschland war Fußball zu Beginn als Fußlümmelei, Proletensport und gar als ‚englische Krankheit‘ verschrien. Heute stellt sich Profifußball als Schauspiel mit unbekanntem Ausgang dar. Die Zuschauer bilden einen integralen Bestandteil der Inszenierung, mit allen massenpsychologischen Phänomenen, die auch anderswo auftreten, wo mehr als 100 Menschen zusammenkommen. Der Zweck ist die Ekstase.

Hängt das nicht auch davon ab, wie die eigene Mannschaft spielt?

Der Stadionbesuch an sich stellt ein Erlebnis dar, bei dem verschiedene Faktoren den Fan aus seinem Alltag reißen. Auf den Rängen wird ein Gleichheitsgefühl erlebt, zwischen sozialen Schichten, sogar zwischen den Geschlechtern. Man erlebt sich mehr als Gemeinschaft denn als Individuum, oder volkstümlich ausgedrückt: Hier werde ich von meinem nach Bier stinkenden Nachbarn berührt oder gar umarmt, bestimmte Regeln des Umgangs sind aufgehoben, man erlebt eine Art Ekstase.

Das klingt beinahe erotisch.

Es ist mehr ein Rausch. Ekstase bedeutet wörtlich: außer sich sein. Der Mensch vergisst nicht nur seine Alltagssorgen, sondern auch seine Vergänglichkeit. Darum fühlen sich Menschen zu solchen Zuständen hingezogen. Wenn wir das Verhalten der Fans beobachten, wird das noch klarer: Die Fan-Gesänge, die Ola-Welle - da stecken rituelle Muster drin, die auf die Religion verweisen.

Fußball als Ritual?

Soziologen neigen ja dazu, aus allem ein Ritual zu machen. Der Übergang zur Religion findet dort statt, wo rund um diesen rituellen Akt, der zur Eksta­se führt, ein Erklärungsmodell aufgebaut wird.

Womit wir bei der Ersatzreligion wären.

Ja, die Hardcore-Analyse des Soziologen würde lauten: Mit dem Wegfall traditioneller religiöser Systeme, und nachdem der Sozialismus ausgedient hat und der Kapitalismus auch nicht so toll funktioniert, kann Fußball als Identitätsstifter und Integrationskraft wirken. Beispiele dafür gibt es: Nur im Fußballteam herrscht im Vielvölkerstaat Irak Einheit. Nirgendwo anders jubeln Schiiten, Sunniten und Kurden gemeinsam. Oder der FC Barcelona, der unterschwellig als Nationalmannschaft Kataloniens empfunden wird.

Was sagt der Soziologe zu den Spieler-Präsentationen in Madrid?

Ich muss spontan an die Reliquienkultur des Mittelalters denken, als die Identität einer Stadt vom Knochen irgendeines Heiligen bestimmt wurde. Der Vergleich klingt kühn, aber schon damals gab es diese Verbindung zwischen symbolischen und ökonomischen Interessen. Um die Reliquien entstand ein Devotionalien- handel, also ein frühes Merchandising. Man sieht die Parallele zum Verkauf von T-Shirts bestimmter Fußballer. Auch das ist Devotionalienhandel, vergleichbar mit dem an religiösen Pilgerstätten.

Warum kommen 75.000 Menschen zusammen, um zu sehen, wie ihnen ein neuer Spieler zuwinkt?

Die Antwort ist vielschichtig. Zunächst entwickeln manche Ereignisse eine Eigendynamik. Wo 100 Leute stehen, kommen 1.000 dazu, und wo sich 10.000 in Bewegung setzen, sind es rasch mal 75.000. Nur um die Verbundenheit mit dem Club in Beweis zu stellen? Dafür reicht ein Wimpel am Auto. Hier ist ein anderes Phänomen im Spiel: die Sensation. Alleine das Zusammenkommen von 75.000 Menschen ist ein Ereignis.

Im konkreten Fall ging es um den teuersten Spieler aller Zeiten.

Ronaldo ist nicht nur Sportler, sondern auch eine Marke. Das ist ein Sportler dann, wenn er abseits seiner sportlichen Leistungen lukrative Sekundärgeschäfte über Werbung und Merchandising ermöglicht. Das wiederum ergibt sich durch sein Charisma, durch Legenden, dadurch, dass man über einen Spieler Geschichten erzählen kann, die Interesse wecken. Beckham ist ein klassisches Beispiel. Egal wie gut er als Fußballer wirklich ist - als Marke ist er top. Real Madrid verfolgt in diesem Sinn eine klare Strategie: Gekauft werden eigentlich Marken, und Real Madrid wird zur einenden Markenfamilie.

War die Ronaldo-Show dann nicht eine Verkaufsveranstaltung?

Nicht im engen Sinn. Es ging darum, die Verbindung zwischen der Marke Ronaldo und der Marke Real Madrid herzustellen.

Warum gibt es diese Massen­begeisterung in Deutschland nicht auch?

In Deutschland ist das Team gefragt, nicht Charisma. Beim VfB Stuttgart haben sie Tätowierungen und Ohrringe verboten, Beckham hätte dort nie spielen können. ‚Geld schießt keine Tore‘, heißt es. Leute wie Vogts, Klinsmann waren gegen Primadonnen allergisch, und das sind charismatische Spitzenspieler nun mal. Der einzige Club in Deutschland, der eine mit Real Madrid vergleichbare Star-Strategie verfolgt, ist Bayern München. Und was die Begeisterungsfähigkeit des Publikums anlangt: Historisch bedingt haben wir eben heute Probleme mit Personenkult.

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