Jochen Lehmann radelt niemand so leicht davon. Vielleicht auf kurzer Distanz. Aber Sprints interessieren den 40-jährigen Extremsportler nicht. Es sei denn, sie gehen über 540 Kilometer, 13 Pässe und mehr als 13.000 Höhenmeter. Und zwar am Stück. Am 19. Juni nimmt der gebürtige Darmstädter zum sechsten Mal in seiner Profikarriere am härtesten Ein-Tages-Radrennen der Welt teil. Punkt 12 Uhr fällt dann im Südtiroler Reschenpass der Startschuss zum „Race Across the Alps". Dort wird Lehmann nach mörderischen 23 Stunden, 38 Minuten und 25 Sekunden auch wieder ankommen. Vorausgesetzt, er ist genauso flott unterwegs wie 2005, als er sich den sechsten Platz erkämpfte. Dann wird er rund 24.000 Kalorien verbraucht haben und sein Körper zwei Monate benötigen, um sich von der Strapaze zu erholen.

Seit zehn Jahren kommt Lehmann regelmäßig nach Mallorca, um sich unter anderem auf den Kampf der Giganten vorzubereiten. Vor zehn Monaten hat er seinen Wohnsitz nach Camp de Mar verlegt. Täglich trainiert er auf der Insel fünf bis sieben Stunden und radelt um die 180 Kilometer. Vorzugsweise in den Bergen. „Die Tramuntana ist für mich perfekt. Der Pass von Sóller zum Puig Mayor hinauf hat nahezu alpine Bedingungen." Vor allem dann, wenn man ihn drei Mal nacheinander hoch- und runterfährt.

Aber eigentlich sei das Radfahren als solches beim Alpengigathlon gar nicht das Problem „Das ist reine Kopfsache. Die Beine strampeln wie von selbst." Man müsse sich vor allem mental auf den Wettkampf einstellen, auf die enorme Hitze am Tag und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt bei Nacht. Auf die Höhenluft, auf nicht enden wollende, bis zu 32 Kilometer lange Anstiege (Berninapass) und rasante, mitunter äußerst tückische Talfahrten mit Spitzengeschwindigkeiten von um die 100 Stundenkilometer.

Als ob das nicht schon genug wäre, müsse man sich auch noch höllisch auf den Verkehr konzentrieren, denn die Strecke ist nicht gesperrt. Und wer sich nicht an die Verkehrsregeln halte, bekomme Strafpunkte. „Zum Glück sind die Kontrolleure bei Geschwindigkeitsüberschreitungen nicht so pingelig."

Sein Puls pendle sich schnell bei 145 Schlägen pro Minute ein, das Rennen verlaufe dann wie ein Uhrwerk. „Irgendwann kommst du dir vor wie ein Dieselmotor, der läuft und läuft und läuft."

Aber 24 Stunden im Sattel sind verdammt lang. Da habe man viel Zeit, auf dumme Gedanken zu kommen. „Aber du darfst dich nicht aus dem Rhythmus bringen lassen. Bloß keine Endorphin-Polka, bloß nicht in Trance fallen. Sonst hast du keine Chance, ins Ziel zu kommen." Jedem Zweiten der 50 Teilnehmer ergeht es so. Sie kommen gar nicht an. Auch Lehmann musste bereits einmal wegen Herzbeschwerden aufgeben. „Man darf auf keinen Fall während der Tour an die Strecke als solche denken. 540 Kilometer! Da sagt dir sogar dein eigenes Hirn, dass du bekloppt sein musst, um so etwas zu tun." Aber es sei letztlich eine Herausforderung wie keine andere und man tue es doch. „Du willst es einfach wissen. Das ist ein Kick."

Ein Kick, auf den er lange warten musste. Denn zum Radfahren kam Lehmann erst mit 24 Jahren. Sportliche Gründe gab es nicht. Seine damalige Beziehung hatte sich, so wie seine Zigaretten auch, in Rauch aufgelöst. Und von beidem wollte er weg. Da habe er sich ein Rad gekauft und sich quer durch Frankreich den Frust aus dem Herzen und den Teer aus den Lungen gestrampelt. Dann habe es ihn gepackt. „Aber das ist schon lange her", sagt er, steigt auf seine fünf Kilo leichte Rennmaschine und tritt die Pedale kräftig durch. Der Berg ruft. Auch auf Mallorca.

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