Der dritte Titel in Folge für Spanien? Mit dieser Maßgabe fährt das Team von Trainer Vicente del Bosque zur Europameisterschaft nach Frankreich. Am Montag (13.6.) steht um 15 Uhr gegen Tschechien das erste Gruppenspiel an. Für die MZ schätzt Iván Campo die Chancen der spanischen Mannschaft auf den Titelhattrick ein. Der 42-jährige Baske lebt seit seiner aktiven Zeit bei Real Mallorca auf der Insel und ist für den Zweitligisten als Botschafter in England im Einsatz. Bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich lief Campo für die spanische Nationalmannschaft auf.

Die Rettung von Real Mallorca in der Zweiten Liga ist noch nicht einmal eine Woche her. Sind Sie schon in EM-Stimmung?

Ehrlich gesagt habe ich nach der Saison erst einmal ein paar Tage völlig abgeschaltet und beginne erst so langsam, mich auf die EM zu freuen. Es war eine sehr anstrengende Saison mit Real Mallorca, vor allem in mentaler Hinsicht.

Was ist in diesem Jahr für die spanische Auswahl drin?

Für mich ist Spanien wieder einer der Favoriten. Mein Wunschfinale wäre Spanien gegen England mit dem besseren Ende für Spanien. Der unschätzbare Vorteil von Spanien ist der Trainer. Vicente del Bosque hat sich den allergrößten Respekt verdient. Eine Liste mit 23 spanischen Spielern zu erstellen ist wahnsinnig schwierig. Es gibt so viele tolle Fußballer hierzulande. Del Bosque ist derjenige, der den Markt in Spanien am besten kennt. Lasst Vicente einfach arbeiten! Mit seiner Ruhe und seiner Beständigkeit weiß er schon, was er macht. Schließlich hat er zwei Titel mit der Mannschaft geholt.

Die WM 2010 und die EM 2012. Spanien wurde zu einem gefürchteten Gegner.

Del Bosque hat eine Siegermentalität in das Team gebracht. Das Problem zuvor war ja nicht, dass Spanien keine guten Fußballer gehabt hätte. Wir hatten 1998 eine Wahnsinnstruppe. Jeder Club hätte die einzelnen Spieler sofort verpflichtet. Aber wir haben das erste Spiel gegen Nigeria verloren. Und dann fehlte uns der Glaube an uns selbst. Heute ist die spanische Mannschaft auch Favorit, aber der Unterschied zu uns damals ist, dass das Team weiß, wie es mit dieser Erwartungshaltung umzugehen hat und trotz des Drucks die Spiele gewinnt.

Was hat sich denn damals in der spanischen Mannschaft geändert, dass sie plötzlich anfing zu gewinnen?

Zum einen kam endlich mal das Glück zu Hilfe. Das braucht man im Fußball unbedingt. Früher sind wir häufig durch äußerst unglückliche Umstände ausgeschieden. Aber ein wichtiger Schritt war, dass Luis Aragonés das Team übernommen hat. Er formte eine Mannschaft, ohne auf die vergangenen Misserfolge zu schauen. Er holte viele junge Spieler ins Team und hatte eine neue Philosophie. Unter seiner Leitung haben Spieler wie Xavi oder Andrés Iniesta debütiert. Vicente del Bosque hat die Arbeit von Aragonés weitergeführt und eine Truppe von Freunden gebildet, die wissen, dass sie gut sind, und das auch regelmäßig zeigen.

Vicente del Bosque musste sich aber nach dem Ausscheiden bei der WM 2014 in der Vorrunde einiges anhören. Nicht wenige in Spanien forderten seinen Rücktritt.

Die Leute haben keine Ahnung. Es ist unmöglich, immer zu gewinnen. Es war klar, dass es auch mal ein Turnier ohne Finale oder Titel geben würde. Aber man sollte die Verantwortlichen, die sich auskennen, arbeiten lassen und nicht immer gleich in Aktionismus verfallen.

Der Kader von del Bosque ist wieder ziemlich konservativ aufgestellt. Es gibt nicht viele neue Gesichter.

Das Problem ist, es können nicht alle zur EM mitfahren. Del Bosque weiß sehr genau, warum er exakt diese Spieler ausgewählt hat. Klar glaubt jeder Fußballfan, dass er selbst ein kleiner Nationaltrainer ist und das Team selbst besser aufstellen könnte. Aber nur del Bosque weiß, wem er vertrauen kann. Juanfran zum Beispiel hat eine gute Saison bei Atlético Madrid gemacht, aber den entscheidenden Elfmeter im Champions-League-Finale da­nebengesetzt. Man hätte ihn daheim lassen können. Er wird im Nationalteam aber aufgefangen und zu alter Stärke zurückfinden. Und dann gibt es neue Spieler wie Lucas Vázquez, der ein unglaubliches Jahr bei Real Madrid gespielt hat.

Der Sturm scheint ein wenig schwach auf der Brust. Aritz Aduriz mit seinen 35 Jahren soll die Referenz sein?

Das Alter hat überhaupt keine Aussagekraft. Aritz schaut nicht auf seinen Ausweis, sondern geht topmotiviert in jede Partie. Er hat sich seine Nominierung wirklich verdient, weil er immer alles gibt. Klar, Fernando Torres hätte es auch verdient. Aber es können eben nicht alle mit.

Wird del Bosque taktische Änderungen im Vergleich zu 2014 vornehmen?

Ich kann es mir nicht vorstellen. Es muss darum gehen, das zu machen, was die Spieler können. Und das ist nun mal, den Ball schnell laufen zu lassen und viele Pässe zu spielen.

Mit Marco Asensio hat ein Mallorquiner und Ex-Spieler von Real Mallorca sein Debüt in einem Länderspiel hinter sich. Hatten Sie so bald schon damit gerechnet?

Marco ist ein Riesentalent. Er wird schon vor der nächs­ten WM 2018 in Russland ein wichtiger Faktor im spanischen Team sein. Dass er die Qualität dazu hat, hat er zigfach bewiesen. Jetzt muss er auch aktiv seinen Platz im Nationalteam einfordern.

Welcher Spieler ist Ihr persönlicher Superstar bei der EM?

Da muss ich natürlich einen Spanier nehmen. Mich fasziniert Andrés Iniesta immer wieder aufs Neue. Er hat diese Genialität, die vor ihm schon Xavi und Xabi Alonso hatten. Er spielt seit Jahren gleichbleibend auf Weltklasseniveau. Eine der Entdeckungen bei der EM könnte Paul Pogba sein. Den will nach dem Turnier sicher jeder Club verpflichten, und wer ihn haben möchte, der muss viel Geld ausgeben.

Und welche Mannschaften können Spanien das Wasser reichen?

Ich glaube, die größten Chancen haben die Franzosen selbst - und daneben die Deutschen und die Belgier.

Verfolgen Sie das deutsche Team?

Ja, vor allem seit Pep Guardiola in der Bundesliga anfing. Die Deutschen haben immer ein Superteam, und auch der Trainer ist der Richtige für diese Aufgabe. In den vergangenen Jahren hat es Deutschland geschafft, sehr viele junge Talente ins Nationalteam zu holen. Das Tolle ist: Sie bleiben keine Talente, sondern machen den Sprung zum Weltklassespieler. Wenn man sich Thomas Müller anschaut: Wie der sich vom talentierten Jungspund zum Führungsspieler gemausert hat, das verdient Respekt.

Wie sieht es mit England aus?

Da wächst auch eine große Genera­tion Fußballer heran. Diesmal werden sie vermutlich noch nicht viel reißen, weil die meisten Spieler sehr jung sind und wenig Erfahrung haben. Aber sie sind hungrig, und nach ein paar Lehrjahren gehören die Engländer für mich 2018 zum Favoritenkreis.