Sie selbst ist ein Erlebnis. Mit ihrem wettergegerbten Gesicht und den langen grau-blonden Haaren, die ihr bis über die Schultern fallen, ähnelt die „Pferdeflüsterin" Lucy Rees einer Indianerin. Jede Falte in ihren markanten Zügen scheint eine Geschichte zu erzählen, und ihre blauen Augen erinnern an zwei Bergseen.

Tatsächlich hat die 74-Jährige Waliserin, die seit zwanzig Jahren in der Extremadura lebt, viel Zeit mit halbwilden Pottok-Ponys verbracht. Das Pottok ist eine alte, seltene Ponyrasse aus dem Baskenland, die in den westlichen Pyrenäen lebt. In der baskischen Sprache bedeutet Pottok „kleines Pferd". Durch stundenlanges Beobachten entdeckte Lucy Rees, dass Pferde anarchisch leben. „In einer Herde gibt es keine Autorität, mal übernimmt dieses, mal jenes das Zepter. Daher kommen Pferde auch nicht mit einem Alpha­menschen klar", so die Zoologin und Verhaltensforscherin, die über ihre Erkenntnisse mehrere Bücher veröffentlichte und zuvor auch schon in Irland, Portugal und den USA gelebt und mit Pferden gearbeitet hat.

2015 kam Lucy Rees zum ersten Mal nach s´Hort Vell, seither gibt sie auf dem 57.000 Quadratmeter großen Reiterhof bei Biniali, zwischen Santa Maria und Sencelles, Kurse zum gewaltfreien Umgang mit Pferden. Um davon zu profitieren, braucht man kein eigenes Pferd zu besitzen, der Kurs ist für alle gedacht, die ihre Beziehung zu den Vierbeinern stärken möchten. In einem einstündigen Theorieteil erfahren die Teilnehmer, wie sich Pferde in freier Wildbahn verhalten und was Reiter daraus lernen können. „Das Pferd handelt aus dem Trieb, sich selbst und seine Art zu erhalten", sagt Lucy Rees. „Der Mensch muss das respektieren und sein Handeln danach richten." In einem zweiten Teil demonstriert sie in der Reitbahn, wie das gewaltfreie Zähmen eines Jungpferdes funktioniert. Das Interesse an ihren Kursen ist groß, am vergangenen Wochenende nahmen in Biniali 32 Pferde-Fans daran teil.

Lucy Rees sieht nicht nur wie eine Indianerin aus, sie lebte auch jahrelang abgeschieden in den Bergen von Snowdonia, einem Nationalpark im Norden von Wales, wo sie eine Farm betrieb. Sie wuchs schon mit Pferden auf und besaß als Kind ein Welsh-Pony, das nie kommen wollte, wenn sie es rief. „Ein Jahr lang habe ich es mit Brot und den aromatischsten Wiesenkräutern gelockt, die ich finden konnte, aber nichts half", erzählt Lucy Rees. Dann versteckte sie sich in einem großen Grashaufen auf der Koppel und wartete, bis das Pony von alleine zu ihr kam und den Grashaufen neugierig untersuchte. „Von da an waren wir die besten Freunde, und ich hatte das Vertrauen meines Pferdes gewonnen", so Lucy Rees, die heute als Pferdecoach Einladungen nach Chile, Argentinien, Italien und Holland folgt.

Ihre Überzeugung: Nur wenn du selbst ein Teil der Herde bist, wird dich dein Pferd akzeptieren. Dafür sei es nötig, wie ein Pferd zu denken, glaubt Lucy Rees. „Ein Pferd wittert zunächst überall Gefahr. Wenn es allein auf dem Reitplatz steht, braucht es jemanden zum Anlehnen." Lucy Rees bietet ihnen deswegen sprichwörtlich die Schulter, wie man auf dem Reitplatz von S´Hort Vell beobachten kann. Sie steht ganz nah bei dem Fohlen, streichelt es und bewegt sich mit ihm über den Platz. „So vermittle ich ihm Sicherheit." Als sie dem Tier eine Leine locker um den Hals, später um den ­ganzen Körper legt, guckt das Fohlen zuerst verwundert, lässt es aber ruhig geschehen. Lucy Rees gibt ihm Zeit, Vertrauen aufzubauen. Nach etwa zwei Stunden intensiver Pferdekommunikation legt sie ihm den Sattel auf, lehnt sich über den Rücken des Tieres und steigt auf. Alles geschieht in absoluter Harmonie, ohne Druck und Gewalt.

„Als ich Lucy Rees vor zwei Jahren das erste Mal traf, wusste ich sofort, dass sie zu s´Hort Vell passt", erzählt Ganya Ebele. Die gebürtige Schleswig-Holsteinerin lebt seit acht Jahren auf Mallorca und betreut die Pferde des Reiterhofs. Sie kümmert sich um das Wohl der 50 Ponys und Pferde und trainiert sie. „Bei uns lernen Kinder, bewusst zu reiten und feinfühlig mit Pferden umzugehen", sagt sie. Sobald die Kinder merkten, dass sie damit ihr Ziel erreichen und das Pferd ihren Wünschen folgt, würden sie auch in anderen Situationen im Leben diese Fähigkeiten gezielt einsetzen, so die Reitlehrerin.

Ganya Ebele stellt die Pferde seit 2010 auf gebissloses Training um, in diesem Jahr soll der Reitunterricht durchweg ohne Gebiss erfolgen. Auch mit der gebisslosen Trense behält der Reiter die Kon­trolle über das Tier, aber ohne die Schmerzpunkte in dem sensiblen Pferdemaul zu reizen.

Neben artgerechtem Umgang setzt man auf s´Hort Vell auch auf eine natürliche Pferdehaltung. Die Tiere leben das ganze Jahr über auf der Weide und tragen keine Hufeisen. Ihre Hufe reiben sich auf natürliche Weise durch unterschiedliche Bodenbeläge auf der Koppel ab. In dem 700 Meter langen Paddock Paradise mit Wegen, die denen in freier Wildbahn ähneln, bewegen sie sich den ganzen Tag über auf der Suche nach Futter. Es wird immer wieder an neuen Stellen platziert.

„Mir war klar, dass Pferde, die nicht artgerecht gehalten werden, sich auch nicht für pädagogische und therapeutische Zwecke einsetzen lassen", sagt Maria Valldeperas, die s´Hort Vell 1999 gründete. Die katalanische Anwältin hält sich gerne im Hintergrund, organisiert und koordiniert die Babypony- und Kinderreitgruppen mit wöchentlich rund 200 Teilnehmern und setzt sich für die pferdegestützte Therapie ein. Auch 35 Kinder und Erwachsene mit Behinderungen reiten auf s´Hort Vell, betreut werden sie von zwei fest angestellten Psychologen und Physiotherapeuten. Inzwischen hat Maria Valldeperas sogar eine eigene Abteilung für Fortbildung und Ausbildung auf die Beine gestellt. Studenten können auf s´Hort Vell in Zusammenarbeit mit der Balearen-Universität den Studien­abschluss zur Tiergestützten Therapie machen.

„Respekt lautet die erste Regel für alle Besucher - gegenüber Menschen und Pferden", betont Maria Valldeperas. Es ginge nicht darum, perfekt zu reiten, wichtiger seien die richtige Haltung und Einstellung der kleinen Reiter zu den Ponys. „Wenn man Pferde mit dem Herzen anschaut, merkt man schnell, dass sie in vielerlei Hinsicht unsere Lehrmeister sind und nicht umgekehrt", so Maria Valldeperas. Treffender hätte es wohl auch Lucy Rees nicht formuliert.