Es war der 4. Oktober 2016, als Taucher an der andalusischen Küste vor Almería plötzlich feststellten, dass etwas nicht stimmte. Statt dass sich die Pinna Nobilis wie gewohnt schon bei der Annäherung schloss, blieb sie, leblos, weit offen. Hier und da lagen auch Schalen am Meeresboden, der Perlmutt in der Innenseite noch blitzblank und von keinem Meeresgetier besiedelt - ein Zeichen dafür, dass der Tod des bereits von Fischen oder Oktopussen verschlungenen Weichtieres erst kürzlich eingetreten war.

Keine zwei Wochen später trafen ähnliche Meldungen von toten "nacras", wie die Tiere auf Spanisch auch genannt werden, von der weiter nördlich gelegenen Küste Murcias und Alicantes ein. Spätestens Anfang November setzte das Massensterben der mit teils über einem Meter Länge größten europäischen Muschelart dann vor Formentera, Ibiza, Menorca und Mallorca ein.

„Wir wollten zunächst nicht glauben, dass es auch unsere Pinna erwischen könnte", sagt Maite Vázquez. Die 37-jährige Meeresbiologin vom Centro Oceanográfico de Baleares beschäftigt sich seit 2003 mit der auf Deutsch Edlen Steckmuschel genannten und nur im Mittelmeer vorkommenden Art.

Zusammen mit Elvira Álvarez und weiteren Kollegen hatte sie sich um die Erforschung und den ­Erhalt der Bestände im Nationalpark Cabrera gekümmert. Die zuvor von ankernden Booten, Schleppnetzen und Muschelsammlern bedrohte Art hatte sich dort spektakulär erholt. Bis zu 137 Exemplare auf ihren zehn mal zehn Meter großen, mit Bändern unterteilten Beobachtungsparzellen hatten die beiden Forscherinnen gezählt.

Bei ihrem letzten Besuch, im März, war davon kaum noch eine nacra am Leben: In zehn Meter Tiefe waren 86 Prozent der Tiere tot, in 20 Metern gar 98 Prozent.

Und das in nicht einmal sechs Monaten.

Video: Sehen Sie hier, wie Maite Vázquez und Elvira Álvarez die Edlen Steckmuscheln vorfanden:

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Riesenmuscheln: Artensterben in Echtzeit

Riesenmuscheln: Artensterben in Echtzeit

Ähnliche Prozentwerte werden von etwa 90 Beobachtungspunkten entlang der spanischen Mittelmeerküste gemeldet. „Vor Andalusien, Murcia und Alicante sowie rund um die Balearen ist die Pinna Nobilis faktisch ausgestorben", bestätigt José Rafael García,Meeresbiologe an der Universidad Católica in Valencia.

„Es ist wie ein Artensterben in Echtzeit, und wir sind die Zuschauer. Wir fühlen uns machtlos", sagt Maite Vázquez. Dass die Pinna Nobilis in Spanien sehr bald auch offiziell nicht mehr nur als eine „gefährdete", sondern eine „vor dem Aussterben stehende Art" eingestuft wird, ist abzusehen. „Damit hätte sie einen Status wie etwa der Iberische Luchs: Ihrem Schutz muss alles untergeordnet werden", sagt Elvira Álvarez.

Mit dem "lince ibérico" würde sie auch noch etwas anderes gemein haben: Es sind bekannte, emblematische Tierarten, die für die Bedrohung vieler anderer Spezies und ganzer Lebensräume stehen. „Wer hier aufgewachsen ist und am Meer lebt, kennt die 'nacras'. Mein Vater erzählt immer, wie das Neptungras früher nur so von ihnen übersät war."

Weit über einen Meter lang: Elvira Álvarez und Maite Vázquez bei der Vermessung von Schalen der Pinna Nobilis

Entsprechend groß ist das Netzwerk an Wissenschaftlern, Sporttauchern und Fischern, die sich derzeit spanienweit über das Massensterben austauschen. Drei Labors arbeiten daran, den Krankheitserreger zu entschlüsseln. Amalia Grau vom landeseigenen ­Meereslabor Limia in Port d´Andratx war die Erste, die ihn identifizierte.Der Übeltäter ist ein Parasit

Grau hatte im Rahmen des Schutzprogramms von Cabrera schon vor Jahren Gewebeproben der Pinna Nobilis untersucht und konnte so am Elektronenmikroskop schnell feststellen, was bei den befallenen Exemplaren nicht stimmte: In der Verdauungsdrüse hatten sich Haplosporidia eingenistet. Das sind Einzeller, die zunächst die gesunden Zellen verdrängen und zerstören, dann in sogenannten Plasmodien eine Art Klumpen bilden, um dann als Sporen zu streuen.

„Im Ergebnis können sich die Muscheln nicht mehr ernähren, sie verhungern regelrecht", sagt Amalia Grau. Haplosporidia haben auch schon anderswo Muscheln befallen: An der Ostküste der USA fielen ihnen in den 50er-Jahren ganze Austernzuchten zum Opfer. Die nun im Mittelmeer auftretenden Parasiten ähneln jenen Einzellern, sind aber nicht mit ihnen identisch. „Es handelt sich um eine neue Art", sagt Amalia Grau.

Weder ist bekannt, über welchen Träger die Sporen im Wasser fortgetragen werden und in die Verdauungsdrüse eindringen, noch woher die Haplosporidia kommen. Es wird auch nicht einfach sein, es festzustellen: „Der Parasit kann aus irgendeiner Fisch- oder Austernzucht stammen, von Schiffen eingeschleppt worden sein oder auch ganz woanders her kommen: Wir wissen es nicht", sagt Salud Deudero, die Leiterin des Centro Oceanográfico.

Bevor man diesen Ursprung nicht kennt und womöglich eine weitere Verbreitung verhindern kann, sind die Aussichten, dass Artensterben zu stoppen, schlecht. Zwar besteht Hoffnung darauf, dass sich einige Exemplare als resistent gegen den Parasiten erweisen. „Ich habe erst dieser Tage bei einem Tauchgang in der Bucht von Palma eine nacra gesehen, die noch lebte", sagt Iris Hendricks vom Forschungsinstitut Imedea in Esporles.

Auch Maite Vázquez und Elvira Álvarez vom Centro fanden Anfang April auf einer ihrer Parzellen vor Sant Elm noch eine Überlebende, eine von zuvor 17 nacras. Doch sie war winzig klein, noch nicht geschlechtsreif und unendlich einsam: Um sich zu vermehren, bräuchte sie etliche weitere Exemplare in der unmittelbaren Umgebung (siehe Kasten). „Insofern ist auch sie dem Tode geweiht", sagt Maite Vázquez.

Vermehrung im Labor?

Womöglich aber wird das die einzige Möglichkeit sein, die Pinna Nobilis doch noch zu retten: resistente Exemplare sammeln, sie in einer Zucht vermehren und sie dann wieder ansiedeln. José Rafael García von der Universidad Católica de Valencia ist es bereits gelungen, Steckmuscheln in großen Wassertanks zu halten und sie zu vermehren - wenn auch bislang nur bis zum Larvenstadium.

Eine gewisse Hoffnung setzen die Wissenschaftler auch auf Larven, die sich als resistent erweisen könnten. Die Pinna Nobilis hatte sich noch vor dem Einsetzen des Massensterbens im Sommer vermehrt, einige neue nacras könnten noch heranwachsen.

Außerdem dürften vom Norden her weitere Larven angetrieben werden. Aus einem Grund, den die Wissenschaftler bisher noch nicht verstehen, hat das Massensterben bislang nördlich von Alicante Halt gemacht. Auch Katalonien und Frankreich sind noch nicht betroffen. Dass das auf lange Sicht so bleibt, dafür mag keiner der Wissenschaftler die Hand ins Feuer legen.

Erste Fälle vor Algerien und Marokko

Zumal alle über die rasante Ausbreitung des Parasiten erschrocken sind. „Das beweist, dass wir hier auf Mallorca keine Insel sind", sagt Institutsleiterin Salud Deudero, „sondern über das Meer eng und unmittelbar mit der Festlandküste verbunden sind." Derzeit scheint sich das Massensterben an der nordafrikanischen Küste auszubreiten. Erste Berichte aus Marokko und Algerien über abgestorbene Pinna Nobilis liegen bereits vor. Auch die Meeresbiologen in Italien und im östlichen Mittelmeerraum sind bereits vorgewarnt, was da wohl auf sie zukommen könnte.

Wichtig seien jetzt vor allem genaue Bestandsaufnahmen der noch nicht betroffenen Gebiete, sagt Maite Vázquez, die zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen unter Hochdruck an einer für die internationale Öffentlichkeit bestimmten wissenschaftlichen Mitteilung arbeitet. „Wenn wir nicht wissen, wo die Pinna Nobilis lebt und sich vermehrt, können wir auch nichts da­rüber sagen, was für einen Schaden der Erreger anrichtet und wie man ihn am besten bekämpfen kann."

Denn dort, wo das Massensterben bereits eingesetzt habe, sei schon nach wenigen Wochen nichts mehr von der Pinna Nobilis zu sehen: Die Muschelschalen versinken im Seegras oder werden von den Strömungen weggetrieben. Von den als Spezies 5 Millionen Jahre alten Meeressolitären ist dann nichts mehr übrig: „Es ist dann so, als ob es die Pinna Nobilis niemals gegeben hätte", sagt Elvira Álvarez.