Nun bin ich wieder auf meiner Lieblingsinsel und warte auf eine Einladung zum Weihnachtsfest. Um der Einsamkeit zu entfliehen, bin ich nach dem Tod meiner geliebten Lucia nicht zurück in die Eifel geflogen, sondern zu meinen Mönchsgeierfreunden auf Mallorca. Ich hoffe, ich werde von Geierfreunden unter den Mallorquinern zum Weihnachtsessen am Heiligen Abend eingeladen. Ich brauche keinen Sitzplatz. Ein Stehplatz genügt. Ich bin knapp über einen Meter groß. Das reicht, um an die Speisen auf dem Tisch zu kommen.

Es wäre schön, wenn es auf Mallorca die alte polnische Sitte gäbe, für Jesus oder einen Freund oder armen Teufel wie mich einen Platz frei zu halten. Ich verspreche, niemanden zu erschrecken und nur leise mit meinem mächtigen Schnabel an die Tür zu klopfen. Auch will ich mich anständig benehmen, keine Gier zeigen, selbst dann nicht, wenn mir beim Anblick der rohen Gans, die gerade in den Backofen geschoben wird, das Wasser im Schnabel zusammenläuft.

Vielleicht trennt mir die Gastgeberin von dem Braten ja einen Schenkel ab. Ich wäre auch mit den Innereien zufrieden, obwohl die eher etwas für Gänsegeier wären. Auch verspreche ich, gründlich aufzuräumen, wenn etwas übrig bleibt. Das machen sonst zwar die Schmutzgeier, aber einen Dünkel kann ich mir nicht leisten. Denn allein sein möchte ich zu Weihnachten nicht.

„Forever together" - das hatten wir uns fest versprochen: Lucia, eine bildhübsche Geierlady, und ich der strubbelige Mönchsgeier Georg aus der rauen Eifel. An Mallorca hatten wir die schönsten Erinnerungen. Lucia und ich hatten uns in der Geier-Reha, der BVC-Stiftung, kennengelernt. Lucia war von dem Trauma kuriert worden, das sie nach einer Kollision mit einem Windrad erlitten hatte. Ich hatte drei Wochen Aufbaukost bekommen, weil ich auf meiner Flucht aus einem Greif­vogelpark fast bis auf die Knochen abgemagert war. Teilnahmslos hatte ich die Aufnahmeuntersuchung durch den Tierarzt und die Helfer über mich ergehen lassen. Ich war vermessen worden, Kopf- und Körpergröße, Spannweite und Gewicht waren notiert worden.

Einer der Helfer hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: „Armer Kerl, total heruntergekommen. Der braucht doppelte Portionen". Mein Alter war auf knapp fünf Jahre geschätzt worden. Nicht, dass ich bei dem Zusatz „geschlechtsreif" rot geworden wäre, aber ein wenig mehr Diskretion hätte ich mir schon gewünscht. Lucia, die auch untersucht worden war und alles mitgehört hatte, hätte meine Zuneigung falsch verstehen können.

In der Reha waren wir gesundgepflegt worden und hatten uns ineinander verliebt. Die Gänsegeier, die Lucia und mich bei der Balz beobachteten, hatten gestaunt. Lucia und ich waren immer die gleichen Flugmanöver geflogen, hatten tolle Synchronflüge absolviert, manchmal waren wir übereinander geflogen, manchmal nebeneinander. Hatte ich eine Rechtskurve gezogen, hatte sie es auch getan. Und war sie eine Linkskurve geflogen, war ich ihr wie ein Schatten gefolgt. Unsere Krallen hatten sich ineinander verschlungen. Wir hatten uns wenige Meter vor dem Boden aus einem schwindelerregenden Sturzflug gelöst, um dann wieder getrennt in den Himmel aufzusteigen. Es war, wir ihr Menschen es nennt, ein atemberaubender Balzflug. So machen es Mönchsgeier, die sich lieben.

Wir hatten einen Horst hoch über der Steilküste repariert und ein Nest gebaut. Die Web-Kamera über uns empfanden wir zwar als sehr indiskret, aber andererseits war unser Gelege so gut überwacht. Niemand konnte unbeobachtet unser Ei und unser erstes Küken stehlen. 55 Tage hatten wir das Ei abwechselnd bebrütet. Manchmal hatte es sogar Streit gegeben, wer gerade mit dem Brüten dran war. Wir wollten beide unsere elterlichen Pflichten erfüllen.

Nach acht Wochen war es so weit gewesen: Der kleine Jordi hatte mit seinem Schnabel die Eierschale zertrümmert. Geierbabys sind eine Attraktion - jedenfalls für ihre Eltern. Lucia und ich waren erleichtert, dass unser erster Nachwuchs gesund war. Und er hatte einen Appetit! Fast ­viereinhalb Monate hatten wir in unserem Kropf zerkleinerte Nahrung zum Nest geschleppt und dann heraus­gewürgt.

Es hatte sich gelohnt: Jordi war ein kräftiger Jungvogel geworden. Wir hatten ihn auf seinen ersten Flügen begleitet. Bald aber hatte er allein fliegen wollen. Als er unseren Horst verließ, hatten wir ihn ermahnt, keine Dummheiten zu machen und vorsichtig zu sein. Vor allem hatte er sich von der Einflugschneise zum Flughafen Santa Eugènia fernhalten sollen. Das Foto von dem jungen Mönchsgeier, der in 1.500 Meter Höhe gegen den Bug einer Lufthansa-Maschine geprallt war, hatte uns alle schockiert. Ich hätte es Jordi gern gezeigt. Aber mit der Zeitung, in der das Foto zu sehen war, hatte Lucia den Horst ausgestopft. So blieb es bei den Ermahnungen.

Lucia und ich waren das erfolgreichste Brutpaar, das jemals von der Stiftung auf Mallorca wieder fit gemacht und ausgesetzt worden war. Weil wir viele weitere erfolgreiche Bruten versprachen, waren wir dann zur Verstärkung der Mönchsgeierpopulation im Süden Frankreichs ausgewildert worden. Der Grand Canyon du Verdon war unsere neue Heimat geworden.

In jedem Spätherbst war unsere Liebe neu entflammt. Wir hatten uns wie gewohnt das Brutgeschäft und die Aufzucht unserer Küken geteilt. Der kleinen Lucie waren Lilou und Cloé, Louis und Lucas und zuletzt Georges gefolgt. Gegen den Namen „Georges" hatte Lucia viel einzuwenden gehabt. Er sei altmodisch, hatte sie gemeint. Ich hatte mich gefragt, ob ich ­altmodisch, ob ich mit meinen Enddreißigern zu alt für sie geworden war. Aber sie hatte den Namensstreit nicht vertiefen wollen. Sie hatte gesehen, dass ich Schwierigkeiten hatte, mein wachsendes Alter zu akzeptieren, waren mir doch schon wieder einige Federn ausgegangen.

Lucia war genau betrachtet Halbwaise gewesen. Das hatte sie aber partout nicht akzeptieren wollen. Ihre französische Mutter war vor vielen, vielen Jahren von ihrem spanischen Partner getrennt und nach Südfrankreich zurückgebracht worden. Seitdem hatte sie ihre Mutter vermisst und war jedes Jahr zu Suchflügen aufgebrochen. Einmal war sie sogar in den Parc national de Pyrénnées geflogen. Das war allenfalls in drei Tagen zu schaffen. Natürlich hatte ich sie schon am ersten Abend vermisst, an dem ich allein blieb. Sorgen hatte mir das jedoch nicht gemacht, weil sie schon früher erst nach einigen Tagen zurückgekehrt war.

An einem Spätsommertag war dann alles anders. Ein heftiges Gewitter hatte mit Blitz und Donner und einem hurrikanartigen Sturm Bäume umgestürzt, Steinlawinen ausgelöst, die Landschaft verwüstet und unter den Viehherden eine Panik ausbrechen lassen. Es war eine Naturkatastrophe gewesen, die uns Geiern reichlich Arbeit und Futter beschert hatte. Aber ich hatte nicht zum Aufräumdienst fliegen können. Eine tiefe Unruhe hatte mich erfasst. Lucia war nun seit fünf Tagen nicht heimgekehrt.

Ich begann einen Suchflug über die Gipfel, über Hochalmen, Talmulden, Felsklippen und Schluchten, flog entlang der Fernstraßen und umgeknickter Strommasten. Keine Spur von Lucia.

Ausgepowert und deprimiert hatte ich den Heimflug angetreten. Plötzlich hatte ich sie auf einem Felsvorsprung entdeckt. Den Felsen hatte ich schon einmal überflogen, aber sie nicht gesehen, weil der Sturm sie mit Blättern zugedeckt hatte. Nun hatte er die Blätter in das Tal hinabgefegt. Schnell war ich zu ihr heruntergeglitten und hatte sie mit meinem Schnabel einmal, zweimal angestupst. Vergeblich, sie hatte nicht reagiert. Sie war tot. Woran sie gestorben war, wusste ich nicht. Vielleicht war es die Folge einer Bleivergiftung. Wir Greifvögel können uns vergiften, wenn wir einen Tierkadaver mit bleihaltiger Jagdmuni­tion fressen.

Ich war tieftraurig und bewachte ihre Leiche zwei Tage aus Sorge vor einer Himmelsbestattung. Als ich mich am dritten Tag für immer von ihr verabschiedete, strich ich ihr noch einmal liebevoll mit meinem Schnabel über den Hals. Was nun aus mir werden sollte, wusste ich nicht. Ein Leben ohne Lucia war für mich kaum denkbar.

Älteren Geiern geht es wie älteren Menschen. Sie leben mehr und mehr in der Erinnerung, ich in der Erinnerung an die glücklichste Zeit in meinem Leben. Das war die Zeit auf Mallorca. Eine Einladung zum Weihnachtsfest wäre mein sehnlichster Wunsch. Dann könnte ich mit Freunden trauern.

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