Die kleine Mari Luz hatte am Kiosk bei der elterlichen Wohnung nur eine Tüte Chips kaufen wollen. Sie kehrte nie mehr nach Hause zurück. Das Schicksal des fünfjährigen Mädchens in der südspanischen Stadt Huelva vor knapp einem Jahr bewegte die Spanier in ähnlicher Weise wie das Verschwinden von Madeleine die Briten. Während das britische Mädchen im Mai 2007 in Südportugal spurlos verschwand, wurde Mari Luz nach zweimonatiger Suche tot am Hafen von Huelva gefunden.

Als mutmaßlichen Mörder nahm die Polizei einen vorbestraften Kinderschänder fest. Der 43-Jährige war wegen sexuellen Missbrauchs seiner Tochter rechtskräftig verurteilt und hätte eigentlich im Gefängnis sein müssen. Der zuständige Richter Rafael Tirado hatte es jedoch fast zwei Jahre lang versäumt, den Haftvollzug anzuordnen. Ohne die Justizpanne wäre Mari Luz, das Roma-Mädchen mit den dunklen Augen und schwarzen Locken, wahrscheinlich noch am Leben.

Spaniens höchstes Richtergremium CGPJ (Allgemeiner Rat der Rechtsprechenden Gewalt) verurteilte den Richter, dem der verhängnisvolle Fehler unterlaufen war, nun in einem Berufungsverfahren zu einer Geldbuße von 1500 Euro. Damit löste es im ganzen Land eine Welle der Empörung aus.

Der Vater von Mari Luz, Juan José Cortés, bezeichnete das milde Urteil als eine "nationale Schande". Die spanische Roma-Vereinigung sprach von einer "Provokation". Die sozialistische Regierung und die konservative Opposition legten dem CGPJ unisono zur Last, den Richter-Kollegen "aus Korpsgeist" vor einer härteren Strafe bewahrt zu haben. Spaniens Vizeregierungschefin María Teresa Fernández de la Vega hatte verlangt, Tirado für drei Jahre vom Dienst zu suspendieren. Die Fraktion der Sozialisten will den CGPJ-Präsidenten Carlos Dívar vor das Parlament zitieren.

"Das Richtergremium bewies einen eklatanten Mangel an sozialer Sensibilität. Es scheint in einer anderen Welt zu leben", schrieb die Zeitung "El País". Das Konkurrenzblatt "El Mundo" stieß in dasselbe Horn: "Einen gefährlichen Päderasten oder potenziellen Mörder frei herumlaufen zu lassen, darf niemals als ein kleines Versehen abgetan werden." Eine - dem Richter unterstellte - Beamtin war vom Justizministerium wegen der Panne für zwei Jahre vom Dienst suspendiert worden. Für die Bestrafung Tirados war das Ministerium jedoch nicht zuständig.

Viele Spanier sehen sich durch den Skandal in ihrem negativen Urteil über die Justiz bestätigt. Seit vielen Jahren genießen die Gerichte von allen staatlichen Organen in der Bevölkerung das schlechteste Ansehen. Die Justiz gilt als langsam, selbstgefällig und nicht mehr zeitgemäß. Die Juristen weisen demgegenüber darauf hin, dass die Gerichte in der Flut der Verfahren untergingen und Versehen wie das des Richters Tirado nicht verwunderlich seien.

Die 4700 Richter in Spanien müssen im Jahr acht Millionen neue Verfahren bearbeiten. Zum Jahresende bleibt ein Überhang von 2,5 Millionen unerledigter Fälle zurück. Seit Jahrzehnten sprechen die Politiker davon, dass das Land eine umfassende Justizreform benötige. An dem Vorhaben scheiterten bislang jedoch alle Regierungen.