Frau Fleckenstein, eine Frage an die ehemalige DDR-Bürgerin: Gibt es eine typische westdeutsche Charakter-eigenschaft?

Die oftmals unterstellte Besserwisserei ist wohl ein Ergebnis der Umstände: Wenn jemand von einem hochentwickelten Land in ein unterentwickeltes kommt, dann wirkt er vielleicht automatisch arrogant. Allgemein gilt: Es gibt immer solche und solche.

Herr Minkner, Gegenfrage an den Westberliner: Kennen Sie eine typisch ostdeutsche Eigenschaft?

Ich habe nach der Wende als Anwalt zusammen mit einem Wirtschaftsprüfer 200 Betriebe der ehemaligen DDR in neue Gesellschaftsformen umgewandelt. Dabei habe ich schon festgestellt, dass der Westdeutsche viel selbstbewusster auftrat. Er klopfte an, kam rein und war da. Der Ossi hat auch angeklopft, dann ging die Klinke runter, aber er kam in gebeugter Haltung hinein. Sie durften halt 40 Jahre nicht das sagen, was sie wollten. Auch gab es verschiedene Wertvorstellungen der Menschen, die sich laut Umfragen jedoch im Laufe der vergangenen 20 Jahre angeglichen haben. Ich habe in meinem Betrieb sechs oder sieben Ostdeutsche beschäftigt. Da merkt man keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West.

Hau:

Ich würde diese Unterschiede relativieren. Schauen Sie: Ich bin ein urechter Schwabe. Die deutsche Einigung hat für mich schon mit einem großen Unglück begonnen: dem Krieg gegen Frankreich 1870 und 1871 und der darauf folgenden preußischen Dominanz in Deutschland. Für mich wäre eine deutsche Einigung als politische Einigung die deutsche Revolution 1848 gewesen. Für mich ist Deutschland deshalb immer noch ein Kunstprodukt. Ich fühle mich als Schwabe der Schweiz und Italien näher als beispielsweise Hamburg oder Berlin.

Eint der Umstand, dass wir alle auf Mallorca leben?

Fleckenstein:

Ich denke, die Herkunft tritt bei den Deutschen auf der Insel eher in den Hintergrund, weil sie offener und weltbürgerlicher sind.

Minkner:

Leute, die Deutschland verlassen und hier ihren Lebensmittelpunkt finden, sind ja untypisch. Sie reisen ohne Mauer im Kopf. Ich sehe das auch gar nicht, dass hier noch ein Unterschied zwischen Ost und West gemacht wird.

Und dennoch gibt es Menschen aus dem Osten, die in der Zeitung nicht ihre Herkunft lesen möchten – wegen der alten Vorurteile wie beispielsweise: Der Ossi ist faul.

Minkner:

Ich kann Ihnen sagen: Ich habe genauso viele faule West- wie Ostdeutsche erlebt. Die vermeintliche Faulheit lag auch ein wenig an dem System. In den volkseigenen Betrieben war niemand motiviert zu arbeiten. Bei Gewinnen strich der Staat ein, bei Verlusten füllte der Staat auf. Nach der Wende hat sich aber schnell die Spreu vom Weizen getrennt. Ich habe viele Leute aus dem Osten kennengelernt, die wissbegierig waren und die Informationen wie Schwämme aufgesogen haben. Einige von ihnen haben inzwischen auch schon Immobilien von uns auf Mallorca gekauft.

Wie erklären Sie sich, dass die Linke als Nachfolgepartei der SED im Osten bei der Bundestagswahl noch immer auf 32 Prozent kommt?

Hau:

Dafür gibt es eine Erklärung: Die so­zialen Errungenschaften in der BRD sind zum großen Teil der DDR zu verdanken, weil die Unternehmer Angst hatten vor der DDR. Dass heute 1,9 Millionen Kinder in Deutschland von Hartz IV leben, bezeichne ich als eine Schande. Man muss sich mal fragen warum? Wir können doch von Glück sprechen, dass die Sache nur nach links ausschlägt. Wir haben heute 30 Prozent, die gar nicht mehr wählen gehen.

Fleckenstein:

Wir haben es doch in der DDR, in der Sowjetunion, in Polen gesehen, dass die Planwirtschaft nicht funktioniert. Ich könnte nachvollziehen, wenn alte SED-Kader noch immer der Linken nachtrauern. Mich schockiert aber, dass vor allem viele junge Leute die Linke wählen und auf so ausgefuchste Politiker wie Gysi hereinfallen. Der weiß doch genau, wie es damals in der DDR war. Der hat doch genauso vor den leeren Regalen gestanden.

Minkner:

Bei dem Resultat ist mir auch die Galle hochgekommen. Wir lesen ja gerade jetzt wieder anlässlich des Jahrestages, wie viele Leute im Gefängnis saßen, an der Grenze erschossen wurden, von ihren Ehepartnern im Bett bespitzelt wurden. Noch heute sitzen ehemalige SED-Fürsten in Parlamenten und führenden Positionen. Zulauf erhält die Partei von den Frustrierten und von denen, die sich schon aus dem System ausgeklinkt haben.

Frau Fleckenstein, gibt es etwas, was Sie gerne aus der alten DDR ins vereinigte Deutschland hinübergerettet hätten?

Ja, den Zusammenhalt und die Kollegialität. Es ist bei mir heute noch so, dass ich mehr Wert auf das Umfeld meiner Arbeit lege als beispielsweise auf das Gehalt. Was ich auch sehr positiv fand: Wir konnten in der DDR sehr gut improvisieren.

Minkner:

Aber sind Zusammenhalt und Improvisation wirklich Werte, die Sie in der DDR verinnerlicht haben? Oder sind das nicht eher Eigenschaften, die aus der Not ­heraus geboren wurden?

Fleckenstein:

Ein Beispiel, das sehr gut verdeutlicht, was ich meine: Wenn ich mit meinen Freunden ausgehe, teilen wir am Ende die Rechnung durch die Anzahl der Leute – ohne darauf zu achten, ob jetzt einer nur ein Wasser oder einen Whiskey getrunken hat. In Westdeutschland habe ich oft erlebt, dass nachher die Rechnung ganz genau geteilt wurde.

Hau:

In meiner Generation war das genauso. Wir haben ebenso zusammengehalten. Das ist eher ein Generationenproblem. Aber wir haben noch ein positives Erbe der DDR: fünf Nationalparks, die quasi mit dem Ende des Staates geschaffen wurden. Sie waren Folge des letzten Beschlusses des DDR-Ministerrats. Vor allem Bürgerrechtsbewegungen hatten darauf hingearbeitet.

Oftmals wird auch die Kinderbetreuung, sprich die berühmte Kinderkrippe der DDR, als vorbildlich dargestellt.

Fleckenstein:

Ja, das System an sich war wesentlich besser als im Westen. Ich finde es schon merkwürdig, wenn ein Kindergarten um 14 Uhr schließt. Einerseits will man die Leistungsgesellschaft, in der sich jeder fortbildet. Andererseits haben Frauen aber keine Chance, weil sie sich um die Kinder kümmern müssen. Natürlich darf man nicht vergessen, dass die Krippen auch für die politische Agitation missbraucht wurden.

Minkner:

In Westdeutschland war nicht die Regel, dass wie in der DDR beide arbeiteten. Die Ausgangsbasis war anders. Man bildete sich ja eher etwas darauf ein, dass man von einem Gehalt leben konnte. Heute ist es auch im Westen anders: Aufgrund der niedrigen Löhne in Deutschland und der hohen Lebenshaltungskosten müssen in vielen Haushalten beide arbeiten.

Würden Sie sagen, dass man durch die Geschwindigkeit der Wiedervereinigung versäumt hat, einen dritten Weg zu suchen?

Hau:

Eine neue Verfassung hätte zumindest symbolisch einen Neuanfang dargestellt. Es wäre vielleicht ein Ruck durch die Gesellschaft gegangen. Ich spüre zum Beispiel in Süddeutschland heute eine Art Gleichgültigkeit. Weder merke ich überschwängliche Freude über die Wiedervereinigung, noch möchte jemand die Mauer wiederhaben.

Minkner:

Es gab damals keine Alternative. Die Betriebe standen vor dem Bankrott. Wir haben beispielsweise im Fall von Carl Zeiss Jena das Glück gehabt, dass Lothar Späth geholfen hat. Und auch einige andere Großbetriebe konnten gerettet werden, weil einige sehr gute Manager aus dem Westen rübergingen.

Fleckenstein:

Die politische Situa­tion war ja keinesfalls gesichert. Es wusste ja keiner, was mit der Sowjetunion passiert oder mit Polen. Also für einen behutsamen Prozess der Wiedervereinigung war die Zeit nicht da.

Minkner:

Wir sehen ja, was nachher in der Sowjetunion gelaufen ist. Wenn man durch Nichtstun alles der Mafia oder der Nomenklatura überlassen hätte, würden wir heute in Deutschland ein Chaos haben.

Hau:

Aber diese Phase hat auch den Ruf der Besser-Wessis begründet. Ich war damals relativ gut eingebunden in den Aufbau der Nationalparks, die ich schon erwähnte. Die örtlichen Ökologen haben dann plötzlich Vorgesetzte aus dem Westen bekommen. Ich habe selbst erlebt, mit welcher ­Arroganz die im Osten aufgetreten sind. Das waren vor allem irgendwelche Leute, die in der Bundesrepublik wahrscheinlich niemals eine Karriere gemacht hätten, geschweige denn hohe Posten in den Ministerien bekommen hätten. Dass sich die Ossis irgendwann einmal von denen verarscht gefühlt haben, ist doch nur verständlich. Das hat auch dazu geführt, dass sich viele der Linken angeschlossen haben.

Minkner:

Man hätte sicherlich vieles besser machen können, aber es war einfach nicht genug Manpower da. Deswegen wurde oftmals nur die zweite Garnitur geschickt.

Wir haben heute eine Bundeskanzlerin, einen homosexuellen Außenminister und einen Gesundheitsminister vietnamesischer Abstammung. Ist Deutschland auch durch die Wiedervereinigung weltoffener geworden? Fleckenstein:

Diese neue Offenheit ist auch ein Ergebnis der Globalisierung und lässt sich nicht auf die Wiedervereinigung reduzieren. Aber mit Sicherheit haben beide Seiten von der Wiedervereinigung profitiert. Auch hat uns die Entwicklung insgesamt toleranter gemacht.

Minkner:

Und dennoch sind laut einer Umfrage nur 13 Prozent der Ostdeutschen mit der Veränderung ihres Leben nach der Wende zufrieden.

Fleckenstein:

Das kann ich mir nicht vorstellen.

Minkner:

Es gibt Dörfer in Mecklenburg-Vorpommern mit 30 bis 40 Prozent Arbeitslosigkeit. Da bekommen Sie etwas anderes zu hören als hier bei unseren Gesprächen auf Mallorca.

In der Printausgabe lesen Sie außerdem

- 20 Jahre Mauerfall II: Deutsche Vergangenheit in der Schule

- Schauspieler Friedrich von Thun über Dreharbeiten auf Mallorca