Es gibt Momente, in denen ist Ramón Santiago so verzweifelt, dass er an Suizid denkt. Doch das könne er ja seiner Familie nicht antun, sagt er leise. Der 57-Jährige sitzt am Tisch eines Cafés im zu Marratxí gehörigen Viertel Sa Cabana und schaut sein Gegenüber mit einem durchdringenden Blick an. Ramón Santiago und seine Familie leben seit 2013 in dem Vorort von Palma und würden auch am liebsten dort bleiben. Wie lange das noch möglich ist, vermag Santiago nicht zu sagen. Sieben Bescheide über eine Zwangsräumung haben er, seine Frau sowie die vier Kinder, von denen zwei Töchter ebenfalls schon drei kleine Kinder haben, bereits erhalten. „Siebenmal hat sich die Guardia Civil vor der Tür postiert, hat die Straße gesperrt, und wir standen quasi vor dem Nichts", erzählt Santiago. Und siebenmal wurde die Zwangsräumung im letzten Moment gestoppt - entweder durch einen Richter oder aufgrund der lautstarken Proteste der Plattform „Stop Desahucios Mallorca", die sich für Menschen einsetzt, die kurz davor stehen, ihr Dach über dem Kopf zu verlieren.

Während Santiago der MZ seine Geschichte erzählt, klingelt sein Handy. „Mein Pflichtverteidiger", sagt Santiago und hebt ab. „Neuer Termin für die nächste Zwangsräumung", wiederholt Santiago langsam die Worte des Anwalts. „21. November um 12.30 Uhr." Der 57-Jährige hatte erwartet, gehofft, dass er etwas mehr Zeit hätte bis zum nächsten Termin. Der letzte war erst im September.

Dass es überhaupt so weit kommen musste, erklärt Santiago vor allem mit viel Pech. 45 Jahre lang, bereits als Kind, habe er mit seinem Vater auf Märkten Kleidung verkauft. Das funktionierte lange Zeit sehr gut, bis plötzlich die Standmieten immer weiter in die Höhe gingen und die Verkäufe gleichzeitig wegbrachen. „2016 habe ich dann den Stand aufgegeben." Mit seinen 54 Jahren meldete er sich bei einem Programm der Gemeinde Marratxí für Arbeitslose über 45 Jahren an und bekam einen Vertrag als Straßenkehrer. Bis er eines Tages stürzte und sich eine Verletzung am Knie zuzog. „Das wurde nicht als Arbeitsunfall gewertet, und obwohl die ärztlichen Befunde alle sagen, dass ich nicht arbeiten kann, hat die Versicherung nur eine 18-prozentige Behinderung anerkannt", sagt Santiago. Er musste seinen Job an den Nagel hängen und konnte kurz darauf auch die Miete nicht mehr bezahlen. Seit Herbst 2017 versucht die Bank Cajamar, der die Wohnung gehört, Santiago und seine Familie vor die Tür zu setzen.

Zwangsräumungen sind auf den Balearen weiterhin an der Tagesordnung. Zwar haben sowohl die Räumungen aufgrund nicht bezahlter Miete als auch aufgrund Problemen bei der Bezahlung der Hypothek abgenommen, aber speziell Mietverzug ist immer noch ein häufiges Problem. Im ersten Quartal 2019 gab es insgesamt auf den Inseln 486 Zwangsräumungen, im zweiten Quartal 527 Fälle, 437 davon wegen nicht bezahlter Mieten.

So gesehen haben Ramón Santiago und seine Familie bisher Glück gehabt, schließlich sind sie noch nicht aus der Wohnung geflogen. „Aber wissen Sie, wie schrecklich das ist, ständig mit dieser Unsicherheit zu leben, wann es endlich so weit sein könnte?", fragt Santiago. Zumal seine Situation noch in anderer Hinsicht schwierig ist. Seine Frau ist seit der Geburt der 21 Jahre alten Tochter und einer misslungenen Operation zu 38 Prozent behindert und kann nicht arbeiten. Die älteste Tochter (32) hat eine elfjährige Tochter, ist alleinerziehend und arbeitslos. Die 21-jährige Tochter hat bereits zwei Kinder: ein 18 Monate altes Mädchen und einen fünf Monate alten Jungen. Hinzu kommen noch ein 19-jähriger Sohn, der studiert, und eine zehnjährige Tochter, die noch zur Schule geht.

Einkommen hatte die Familie über längere Zeit überhaupt keins. „Bis uns die sogenannte renta social genehmigt wurde", sagt Santiago. Seit Juni bekommt die Familie nun 730 Euro. Um Lebensmittel zu kaufen, reicht das, aber nicht, um eine marktübliche Miete zu zahlen. Gespräche mit der Bank verlaufen regelmäßig im Sande. „Wir wollen ja eine Miete zahlen, vielleicht 150 bis 200 Euro, aber wir können keine 400 Euro oder mehr berappen", sagt Santiago. Doch das interessiere die Bank nicht. Gemeinsam mit Sozialarbeitern der Gemeinde Marratxí versucht Santiago, seine Situation immer wieder darzustellen.

Jetzt bleibt die Hoffnung auf den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen in Genf. Joan Segura von „Stop Desahucios Mallorca" hat dort zusammen mit dem Anwalt Beschwerde eingelegt. Noch sind nicht alle Dokumente eingereicht, weswegen bislang nur eine vorläufige Stellungnahme aus Genf vorliegt. Aber es gibt Präzedenzfälle bei denen entsprechende UN-Mitteilungen einen Stopp der Zwangsräumung oder die Beschaffung einer Ersatzwohnung bewirkt haben. Grundlage ist der auch von Spanien ratifizierte UN-Sozialpakt.

Doch so weit denkt Ramón Santiago noch nicht. „Erst müssen wir den 21. November überstehen", sagt er. Natürlich habe er auch schon daran gedacht, eine Wohnung zu besetzen, wie es so viele Familien auf der Insel machen, die sich keine Miete leisten können. „Aber dafür bin ich nicht der Typ, das will ich auch den kleinen Kindern in unserer Familie nicht zumuten."