Amet Ndiaye ist einer der Lieblingsfälle von Laura Martínez vom Verein Amés. Der junge Senegalese kam als minderjähriger Flüchtling auf die Insel und wurde in dem Erstbetreuungszentrum Norai untergebracht, das die Stiftung im Auftrag des Inselrates betreibt. Mittlerweile hat er seine Ausbildung zum Sozialarbeiter abgeschlossen und wird ab kommenden Jahr jene Jugendlichen betreuen, zu denen auch er einst gehörte: die „Menas", wie die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Spanien genannt werden. Im Unterschied zu volljährigen Flüchtlingen, die oft ­direkt wieder abgeschoben werden, kommen Minderjährige, die ohne Erziehungsberechtigte in Spanien ankommen, unter Vormundschaft des Staates und dürfen bleiben.

Die Betreuung dieser Jugendlichen übernehmen die jeweiligen Comunidades Autónomas, auf Mallorca das zum Inselrat gehörende Institut Mallorquí d'Afers Socials (IMAS). Die Behörde sieht sich derzeit mit sprunghaft angestiegenen Zahlen konfrontiert. Laut Geschäftsbericht mussten 2016 noch zehn junge Flüchtlinge in Obhut genommen werden, 2017 waren es schon 35 und im vergangenen Jahr bereits 76. „Wir haben zwar zwei eigene Heime, aber die vorhandene Plätze reichten nicht mehr aus. Wir mussten deshalb Ab­kommen mit zwei anderen Organisationen treffen, damit auch sie junge Auswanderer aufnehmen", erklärt Inselratsabteilungsleiter Antonio Muñoz.

Die Associació Amés ist eine davon, sie betreibt in Palma das Wohnheim Norai, in dem 16 Plätze für die Erstaufnahme zur Verfügung stehen. „Wir kümmern uns um die ersten Schritte und sorgen dafür, dass die Jugend­lichen Papiere bekommen", erklärt der Amés-Geschäftsführer Sebastián Cladera. Das dauert wegen Bürokratie und fehlender Kooperation der Botschaften in ihren Heimatländern oft viel länger als die veranschlagten sechs Monate. „Ohne Papiere aber kannst du nicht arbeiten, keine Ausbildung machen und dich schlicht nicht integrieren", so Cladera. Im schlimmsten Fall zieht sich der Vorgang so sehr in die Länge, dass die jungen Einwanderer in der Zwischenzeit volljährig werden - und aus dem System fallen. „Damit verurteilt man sie praktisch zu Obdachlosigkeit und ­Kriminalität, wir können sie dann nicht mehr in die Wohnheime überweisen, in denen sie sonst während der Ausbildung unterkommen würden", erklärt Laura Martínez, die als Sozialarbeiterin für Amés tätig ist.

Endlich einen Beruf erlernen

Dabei wollen die Jugendlichen genau das: endlich einen Beruf erlernen, Geld verdienen, ihr eigenes Leben führen. Ein Aspekt, den die Menschen oft nicht wahrnähmen, wie Abteilungsleiter Muñoz erklärt: „Das sind fleißige Jungs, die dankbar sind für die Chance, die wir ihnen bieten. Und die für uns als Gesellschaft in Zukunft hilfreich sein können."

Muñoz' Aussage ist das genaue Gegenteil der Hetze, die vor allem die rechtsextreme ­Partei Vox in den vergangenen Monaten gegen die „Menas" betrieben hat. Und zwar so laut und penetrant, dass unlängst mehrere ­internationale Kinderschutzbünde in einem ­gemeinsamen Brief an die spanische Staats­anwalt wendeten, um die „wachsende Stigmatisierung" dieser Jugendlichen zu beklagen.

Spanienweit steigt die Zahl der minderjährigen Einwanderer rapide. Auf den Inseln hängt das auch damit zusammen, dass neue Routen über das Mittelmeer erschlossen würden, so Muñoz. „Lange Zeit kamen die Flüchtlinge vor allem über Andalusien, aber in jüngster Zeit landen mehr Boote auf Mallorca, Ibiza und Formentera." Die beiden südlicher gelegenen Balearen-Inseln haben keine geeigneten Einrichtungen für unbegleitete Jugendliche und schicken sie deshalb nach Mallorca.

Amés-Geschäftsführer Cladera macht für den Anstieg auch die sozialen Netzwerke verantwortlich. „Da werden unrealistische Erwartungen geschaffen. Die Jungs sehen das in ihren Heimatländern und wollen das auch. Wenn sie dann hier sind, merken sie zwar, dass man nicht innerhalb von einem Monat Papiere und einen Job hat - aber der emotionale Druck, das zuzugeben, ist zu groß. Also posten auch sie Fotos, auf denen alles ganz toll wirkt. Das ist ein Teufelskreis."

Langfristig könnten nur verbesserte Ausgangsbedingungen in den Herkunftsländern das Problem lösen. „Aber das ist eine Variable, die wir nicht kontrollieren können", sagt der Inselratsverantwortliche Muñoz. Niemand könne sagen, ob die Zahl in den kommenden Jahren weiter ansteigt. Planungssicherheit gibt es deshalb nicht. Wenn wirklich noch mehr Jugendliche kommen sollten, müsse man dann neue Plätze für sie schaffen.

Still und in sich gekehrt

Im laufenden Jahr sind bis Oktober 58 junge Ausländer vom IMAS betreut worden. Die meisten stammen aus Algerien und Marokko, aber auch aus Mali, Ghana oder dem Senegal. Es sind fast ausschließlich männliche Jugendliche, die mit dem Boot auf Mallorca ankommen. „Minderjährige Mädchen werden fast nie entdeckt, weil sie durch Prostitutions-Netzwerke nach Spanien gelangen", erklärt Sozialarbeiterin Martínez. Vermutlich wäre die Reise für Mädchen auch schlicht zu gefährlich. Die Route aus dem südlichen Westafrika führt durch das vom Bürgerkrieg zerrüttete Libyen. Die Jungs aus Ghana oder dem Senegal seien anfangs oft völlig still und in sich ­gekehrt. Erst nach und nach würden sie erzählen, was für schreckliche Dinge sie in ­Libyen erleben mussten.

Viele der Jugendlichen könnten zudem nicht schwimmen, die gefährliche Überfahrt mit dem Boot anzutreten erfordere enormen Mut. „Sie verdienen einen Respekt, der ihnen hier auf den ersten Blick nicht entge­gengebracht wird", so Martínez. „Viele von ­ihnen ­haben ihre Eltern verloren oder sind missbraucht worden." Wenn die Leute die ­Geschichten der „Menas" kennen würden, hätten sie eine andere Einstellung ihnen gegenüber, ist sich die Sozialarbeiterin sicher.

Erfolge und schwarze Schafe

Doch bekannt werden eher die wenigen Fälle, denen die Integration hier nicht gelingt. Dass es unter den minderjährigen Einwanderern auch schwarze Schafe gibt, leugnen weder der Inselrat noch die Stiftung Amés. „Das Problem ist, dass diese ein oder zwei Fälle ein riesiges Medienecho haben, während über die vielen anderen Erfolgsgeschichten niemand berichtet", so Muñoz.

Sozialarbeiterin Martínez kann diese Erfolgsgeschichten erzählen. Von dem jungen Algerier, der mittlerweile als Koch arbeitet. Von einem Marokkaner, der Lkw-Fahrer geworden ist und geheiratet hat. Von einem ehemaligen Schützling, der seit Jahren beim schwedischen Möbelhaus in Palma arbeitet. Von dem jungen Inder, der ohne ein Wort Spanisch nach Mallorca kam und mittlerweile eine Ausbildung zum Steward abgeschlossen hat. Und natürlich von Amet, dem Senegalesen, der bald als Sozialarbeiter in das Norai-Wohnheim zurückkehrt.