Derzeit erleben wir in ganz Europa und weltweit einen Ausnahmezustand, der seinesgleichen sucht. Grund- und Freiheitsrechte, die fest in den Verfassungen der einzelnen Staaten verankert sind, und deren Einhalt unter normalen Umständen oberste Priorität gegeben wird, werden ausgesetzt oder strikt beschränkt. José María Lafuente Balle, Verfassungsrechtler und geschäftsführender Partner der Anwaltskanzlei Lafuente Abogados in Palma de Mallorca, erklärt im Interview, welche juristischen Gefahren die aktuelle Situation birgt und welche Grundrechte trotz des Ausnahmezustands eingehalten werden müssen.

Wie beunruhigend ist es aus Sicht eines Verfassungsrechtlers, dass Grundrechte wie die Bewegungsfreiheit wochenlang ausgesetzt werden?

Ebenso wie in den Verfassungen anderer Länder sind im spanischen Grundgesetz die Ausnahmesituationen, aufgrund welcher bestimmte Freiheitsrechte der Bürger temporär beschränkt werden können, ausdrücklich vorgesehen. Aber selbstverständlich bringt diese Ausgangslage bestimmte Risiken mit sich, denn sie unterbricht zeitweise die Spielregeln der Demokratie. Es gibt Länder, wo dies jedoch noch viel drastischer geschieht als in Spanien. In Frankreich zum Beispiel hat der Präsident der Republik unter solchen Umständen noch weitergehende Befugnisse, in die individuellen Rechte seiner Bürger einzugreifen - in der französischen Verfassung ist daher auch die Rede von einer „konstitutionellen Diktatur".

Die Regierungen Europas beschränken die Freiheitsrechte ihrer Bürger nicht alle auf die gleiche Weise. In Deutschland zum Beispiel wird den Menschen mehr Bewegungsfreiheit zugestanden. Worauf führen Sie das zurück?

Das steht zunächst im engen Zusammenhang mit den klimatischen Verhältnissen der einzelnen Staaten. In den südlichen Ländern leben die Menschen wetterbedingt einfach viel mehr draußen als im Norden Europas. Wenn wir hier die Erlaubnis hätten, spazieren zu gehen, wären viel mehr Menschen auf den Straßen als im Norden Europas.

Aber spielen nicht noch geschichtliche Faktoren eine Rolle?

Nicht so sehr geschichtliche, sondern religiöse. Meiner Meinung nach sind die Einwohner protestantischer Staaten einfach disziplinierter als die Einwohner katholischer Länder - und ganz besonders diszipliniert geht es in Staaten mit calvinistischem Einfluss zu. Ein Beispiel sind die Niederlande, wo nun entschieden wurde, auf den Intensivstationen keine Coronavirus-Patienten, die über 80 Jahre alt sind, aufzunehmen. So etwas ist in katho­lischen Ländern viel schwieriger zu akzeptieren. Genau aus dem gleichen Grund befürworten nördliche Länder auch eher als Länder mit einem katholischen Hintergrund die Sterbehilfe.

Die Regierung hat während des Ausnahmezustands bei Pressekonferenzen Fragen von Journalisten gefiltert. Ein Verstoß gegen die Grundrechte?

Absolut. Außerdem handelt es sich bei dem Grundrecht der Pressefreiheit nicht um ein Recht, das während einer Ausnahmesituation beeinträchtigt werden darf. Gerade in solch einer Krise ist es ungemein wichtig, dass sowohl die Medien als auch das Parlament die Regierung kritisch überwachen können. Denn wenn wir beschließen, in dieser Situa­tion der Regierung außergewöhnliche Befugnisse zu verleihen, muss sich auch die Kontrolle der Regierung außergewöhnlich gestalten, um sicherzustellen, dass die Exekutive strikt

den Gesetzesrahmen des Ausnahmezustands einhält.

Zur Bewältigung der Corona-Krise wird jetzt auch die Ortung der Handys ins Spiel gebracht. Ist diese Praxis mit der spanischen Verfassung vereinbar?

Für mich stellt dies einen eindeutigen Verstoß gegen die Grundrechte der Bürger dar. Er ist durch kein Gesetz gerechtfertigt. Außerdem ist das Parlament sowieso nicht befugt, solch eine Vorschrift zu verabschieden, da diese nicht verfassungskonform wäre. Auch ein Ausnahmezustand rechtfertigt keine Beeinträchtigung des Rechts auf den Schutz der Privatsphäre. Im spanischen Innenministerium gibt es Maschinen, die imstande sind, per Zufallssuche unsere Telefongespräche abzuhören - auch das stellt eine eindeutige Verletzung

dieses Grundrechts dar. Die Verfassung sagt ganz klar, dass das Recht auf den Schutz der Privatsphäre nur durch eine gerichtliche Verfügung ausgesetzt werden darf - nur ein Richter ist befugt, die Überwachung unserer Telefone anzuordnen.

Laufen wir Gefahr in Europa, uns an solche Eingriffe in unsere Grundrechte zu gewöhnen und sie resigniert hinzunehmen?

Ja. Die Handy-Ortung zum Beispiel wird generell in Kontinentaleuropa nicht ausreichend von der Bevölkerung hinterfragt. Weder in Spanien noch in Deutschland oder Frankreich gab es diesbezüglich einen gesellschaftlichen Aufschrei. In Großbritannien hingegen nehmen die Menschen ihre Privatsphäre viel wichtiger als wir - ein Beschluss über eine Handy-Ortung hätte dort gewiss Massenproteste ausgelöst. Generell wird immer mehr in die Freiheitsrechte eingegriffen, und mich alarmiert sehr, dass sich kaum einer wirklich darüber aufregt. Ich höre sogar vereinzelt so unglaublich dumme Aussagen wie „Mir ist es egal, ob die Regierung mich überwacht, ich habe sowieso nichts zu verbergen". Da kann ich nur resigniert den Kopf schütteln. Denn darum geht es gar nicht - es geht schlicht und einfach darum, dass die Regierung nicht befugt sein darf, uns Bürger zu überwachen, da der Schutz der Privatsphäre ein in der Verfassung verankertes Grundrecht ist, und daher keinen Verhandlungsspielraum zulässt. Sinn und Ziel der Grund- und Freiheitsrechte ist es, dass diese Rechte unantastbar sind, und das darf weder von der Regierung noch vom Parlament infrage gestellt werden.