Je länger die Pandemie nun schon dauert, desto größer wird zumindest in Teilen der Bevölkerung eine gewisse Corona-Müdigkeit. Da wird dann mal die Maske nur unters Kinn gezogen, da werden die Hände nicht mehr so gründlich gewaschen wie noch im Frühjahr, als man fast panisch 40 Sekunden lang die Finger schrubbte. Oder da gehen wie in Deutschland Zehntausende auf die Straße, weil sie gleich gar nicht mehr an die Pandemie glauben oder meinen, die Regierungen würden die Bevölkerung entmündigen. Die Leugner einmal außen vor gelassen: Woran liegt es, dass Menschen offensichtlich nur eine gewisse Zeit lang in einem Panikmodus verharren, ehe sie zur Normalität zurückkehren? Ist es der ausgeprägte Egoismus in unserer westlichen Welt, wegzusehen, wenn andere leiden? Die MZ hat mit der Soziologin Maria Antónia Carbonero gesprochen, Professorin für Philosophie und Sozialarbeit an der Balearen-Universität und Leiterin des Observatori Social de les Illes Balears.

Papst Franziskus hat schon im Frühjahr vor einer „Pandemie der Gleichgültigkeit" gewarnt. Nun sind neun Monate vergangen und viele Menschen nehmen Hunderte Tote am Tag in ihrem eigenen Land scheinbar gleichgültig hin.

Unsere Gesellschaft strebt zu einem immer stärkeren Individualismus. Hinzu kommt, dass wir in einer stark medialisierten Welt leben. Die Menschen gewöhnen sich an das, was in den Medien berichtet wird. Vor allem an Realitäten, die sie nicht unmittelbar selbst betreffen, wie etwa Krieg, die Flüchtlingsproblematik oder Hunger. Die Mehrheit der Bevölkerung nimmt diese Berichte mit Gleichgültigkeit hin. Die Medien schaffen ein Gefühl der Ferne dieser Ereignisse. Und so widersprüchlich das auch scheint: Etwas Ähnliches ist auch bei Covid-19 geschehen. Wir nehmen die Zahlen zu Toten, zu Menschen, die auf der Intensivstation liegen, zu Genesenen zwar wahr, aber wenn wir nicht selbst unmittelbar jemanden kennen, der betroffen ist, dann schaffen wir auch hier diese Distanz. Es scheint uns ein Stück weit irreal.

Aber es ist erstaunlich, wie schnell das vor sich geht. Im Frühjahr war die ganze Welt in Schockstarre. Wer nicht unbedingt einkaufen musste, blieb daheim. Und jetzt brodelt trotz teils höherer Todeszahlen vielerorts das Leben wieder, auch gerade auf Mallorca.

Ich glaube, dass das Virus vielen Menschen hier nach wie vor nicht egal ist. Wir sind in eine neue Normalität eingetreten, wir leben jetzt mit dem Virus. Wir haben nach einer Zeit, in der wir uns eingeschlossen haben, gelernt, damit umzugehen. Es ist auch eine psychologische Reaktion auf die Situation. Ich würde es Anpassung an die neue Realität nennen. Dasselbe passiert in Kriegen, bei Hungersnöten. Die Menschen versuchen sich anzupassen, machen sogar Witze darüber. Um mental nicht zugrunde zu gehen, kann man nicht beständig in einem Schockzustand verharren.

Wird Corona die Gesellschaft nachhaltig verändern, vielleicht sogar noch individualistischer machen?

Ich fürchte schon und ich hielte es für sehr bedauernswert, wenn in Zukunft diese Pandemie dazu führt, dass wir uns immer mehr aus der Gesellschaft zurückziehen. Dass diese physische Distanz zu anderen Menschen zu einer emotionalen Distanz in der Bevölkerung wird und somit der Individualismus und nicht die Solidarität gefördert wird. Denn wir müssen ja auch sehen: Es gibt keine Wirtschaft ohne Gesundheit. Und es gibt keine Gesundheit ohne Gemeinschaft. Die Warnungen der Geistlichen sollen daran erinnern. Jeder für sich gesehen kann auf sich aufpassen, sich an die Regeln halten. Aber wenn die Mehrheit der Menschen das nicht tut, dann werden wir als Spezies nicht überleben. Und die Regeln akzeptieren, bedeutet nicht einfach, sie zu befolgen, sondern auch im Einklang mit der Natur zu leben. Wir können nicht so weitermachen wie bisher und unsere Umwelt zerstören, die Folgen der Klimakrise gefährden uns alle. Wir müssen davon wegkommen, den maximalen Gewinn anzustreben auf Kosten der Umwelt. Es wäre ein großer Irrtum, zum selben Wirtschaftssystem wie vor der Pandemie zurückzukehren.

Die Pandemie scheint eine Bewährungsprobe für die gesamte Menschheit zu sein.

Auf jeden Fall. Sie ist eine Bewährungsprobe, aber auch eine Gelegenheit. Immer wenn es radikale Umstürze gab, haben sich daraus große Veränderungen ergeben. So zeichnet sich ja jetzt schon eine neue digitale Revolution ab. Aber wenn es nicht eine Revolution ist, die darauf abzielt, den Planeten zu retten und darauf, dass wir solidarisch mit unseren Mitmenschen sind, werden wir es nicht schaffen.

In Deutschland gehen regelmäßig Corona-Leugner auf die Straße. In Spanien gibt es diese Demonstrationen so nicht. Ist es für Spanien von Vorteil, dass die Gesellschaft weniger stark von Individualismus geprägt ist als die deutsche?

So gesehen schon. Die spanische Gesellschaft gründet sich nun einmal viel stärker auf familiäre Beziehungen und Beziehungen mit den Mitmenschen, was auf der anderen Seite auch das Einhalten der Hygieneregeln wieder schwieriger macht. Aber es ist sicher so, dass in den südlichen Ländern die Normen und Regeln eher nicht aus ideologischen, sondern aus sozialen Gründen missachtet werden. Deshalb hat die Fraktion der Corona-Leugner hierzulande keinen so großen Erfolg. In den nördlicheren Ländern ist die individuelle Freiheit wichtiger. Da spricht man schnell davon, dass der Staat einem etwas aufdrückt. Dieser Diskurs ist hier weniger verbreitet. Menschen in südlichen Ländern umgehen lieber mal die Normen, als sich gegen sie aufzulehnen. Es ist ja denkbar, dass der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Welle in Deutschland auch damit zu tun hat, dass die Corona-Leugner an Zuspruch gewonnen haben.

Es ist zumindest auffällig, dass in den deutschen Regionen, in denen etwa die AfD stärker ist, die Fallzahlen zuletzt deutlich in die Höhe geschossen sind.

In Spanien und auf Mallorca gibt es keine so starke Bewegung in dieser Hinsicht. Hier gehen die Probleme eher von Gruppen aus, die die Krankheit weit weg von sich verorten, wie etwa junge Menschen, die sich weniger an die Regeln halten. Und der Lebensstil macht hier auch viel aus. Wenn man etwa nach Nordspanien schaut, nach Bilbao, oder auch in wohlhabende Orte rund um Madrid, dann wundert man sich vielleicht über die hohen Zahlen. Aber das liegt daran, dass die Menschen abends in die Bar gehen, Tapas essen. Da gibt es keine soziale Distanz. Die Menschen kommen damit nicht klar. Aber nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil diese Lebensweise tief in ihnen verwurzelt ist. Die extreme Rechte hat hier auch versucht, die Pandemie zu leugnen oder abzuschwächen, hat damit aber keinen durchschlagenden Erfolg.

Der Grund dafür, dass das Virus in Spanien so stark zugeschlagen hat, hat also mit der Lebensweise hier zu tun.

Wir sind nun mal ein Volk des physischen Kontakts, des abendlichen Bar-Besuchs. Aber dass Spanien so schwer getroffen wurde, liegt vielfach auch an den Arbeits- und Wohnbedingungen. In den ärmeren Vierteln können die Menschen weniger Homeoffice machen, also haben sie ein größeres Risiko, sich zu infizieren. Sie üben häufig die essenziellen Berufe aus, wie Reinigungskraft, Kassierer, Taxifahrer, aber auch Pflegepersonal. Weil sie so beengt leben, treffen sie sich in der Bar oder im Park. Deshalb legt die Politik hierzulande den Fokus so stark auf die Sperrstunde oder das Schließen der Bars.

Mit der Pandemie wächst auch die Armut, auf den Balearen erwartet uns ein harter Winter. Welche sind die größten Herausforderungen der kommenden Monate?

Zunächst einmal müssen die finanziellen Hilfen aufrechterhalten werden, also die Sozialhilfe oder das Grundeinkommen. Bei Letzterem gab es große Probleme mit der Einführung, mit den bürokratischen Schritten bis zur Auszahlung des Geldes. Da kommt es zu großen Verzögerungen. Und es werden viele Anträge abgelehnt. Die Schwerfälligkeit der Bürokratie in Spanien ist eines unserer größten Probleme und ein wichtiger Ansatzpunkt, um die Auswirkungen einer solchen Krise rechtzeitig zu bekämpfen. Das muss sich ändern, denn in Spanien war weder das Gesundheitssystem noch die Verwaltung auf eine derartige Situation vorbereitet. Auf den Balearen ist natürlich die Abhängigkeit vom Tourismus ein großes Problem, weil viele in Kurzarbeit waren oder gar nicht gearbeitet haben und nur eine geringe Unterstützung erhalten, was sie in eine relative Armut abstürzen lässt. Schließlich sind Lebenshaltungs- und Wohnkosten auf den Inseln teuer. Normalerweise ist die Arbeitslosenquote auf den Balearen niedriger als im Rest des Landes, durch die Pandemie ist sie höher.