Als Paula Meyer am 15. Februar den Code ins grüne Tor am Eingang der Seniorenresidenz Es Castellot in Santa Ponça im Südwesten von Mallorca eingab und die ersten Schritte nach draußen tat, da kam es ihr vor wie ein Befreiungsschlag. Seit Oktober hatte die 89-Jährige, genau wie alle Bewohner von Seniorenheimen auf den Balearen, die Anlage nicht verlassen dürfen. Nicht für einen Ausflug, nicht für einen Einkauf, nicht einmal für einen Spaziergang ums Eck. So schrieben es die Corona-Auflagen vor, die nun erst am 14. Februar wieder gelockert wurden. Meyer ist eine Frohnatur, sie lacht oft und gern. Und sie fühlt sich in Es Cas­tellot sichtlich wohl. „Trotzdem gab es in den vergangenen Monaten Momente, da hätte ich aus Frust etwas an die Wände schmeißen können", sagt sie.

Meyer hat es sich an diesem Montag (22.2.) auf dem sonnigen Außengelände der hauptsächlich von Deutschen bewohnten Residenz bequem gemacht, um die MZ zu empfangen. Hier wachsen Palmen, es gibt zwei Pools und einen atemberaubenden 180-Grad-Blick aufs Meer. „Es lässt sich gut aushalten", spricht die Schweizerin das Offensichtliche aus. Und dennoch. „Wenn man freiheitsliebend und selbstständig ist wie ich, dann will man auch mal raus."

Einkaufszettel schreiben

Meyer ist eine von 51 Bewohnern, die je nach körperlicher und geistiger Verfassung entweder in separaten Apartments leben und sich selbst versorgen oder in Pflegezimmern untergebracht sind. Für die reiselustige Schweizerin, die schon lange auf der Insel lebt und auch außerhalb der Anlage viele Freunde hat, war es immer normal, selbst einkaufen zu gehen. In den vergangenen Monaten mussten das die Angestellten der Residenz für sie erledigen. „Die ­Bewohner haben Einkaufslisten geschrieben, und meine Mitarbeiter haben alles ­besorgt", so Es-Castellot-Leiterin ­Regina Moll. Auf dem Smartphone zeigt die Deutsch-Mallorquinerin belustigt Fotos der teils sehr spezifischen, mit Etiketten ­beklebten Einkaufszettel der Senioren.

„Es waren sehr schwere Monate für uns, und die Impfung gibt uns etwas Erleichterung. Allerdings ist es für das ganz große Aufatmen noch zu früh", findet Moll. Noch immer hält sich ihr Team strengstens an die Hygienemaßnahmen, auch die Bewohner werden immer wieder dazu aufgerufen. Bisher fuhr die Residenz damit gut: ­Anders als in vielen anderen Einrichtungen auf Mallorca, in denen Infektionsherde teils einen Großteil der Bewohner erfassten und bisher Hunderte Menschenleben kosteten, ist in Es Castellot seit Ausbruch der Pandemie nur eine Bewohnerin positiv getestet worden. „Das war im November, sie war asymptomatisch und hat niemand anderen angesteckt." Mittlerweile ist die Impfkampagne für Seniorenheime abgeschlossen, auch in Es Castellot haben 45 Bewohner und 90 Prozent der Mitarbeiter die zweite Dosis erhalten. Nebenwirkungen habe es kaum gegeben.

Wie Alice im Wunderland

Deshalb dürfen die Bewohner nun auch wieder ungehindert nach draußen. Nur wer länger als 72 Stunden wegbleibt, braucht einen positiven PCR-Test, um wieder eingelassen zu werden. „Monatelang haben wir zusammen davon geträumt, was wir als Erstes machen, wenn wir wieder rausdürfen. Ich wollte unbedingt in den Supermarkt", berichtet Paula Meyer. „Letztlich war es dann aber gar nicht so ein Highlight." Nach der behüteten Atmosphäre in der Anlage habe ihr der Schutzfilm draußen plötzlich sogar etwas gefehlt. „Und im Supermarkt kam ich mir vor wie Alice im Wunderland. Ich hatte ganz vergessen, wie viele Produkte es gibt, und habe vieles gekauft, was ich gar nicht brauche."

„Wir wollten immer raus, aber nun ist es gar nicht so toll, es hat ja ohnehin fast alles zu", bestätigt Walter Winkenbach. Der 64-Jährige aus Heidelberg lebt seit drei Jahren in Es Castellot, Paula Meyer bezeichnet er scherzhaft als seine Adoptivmutter. Ja, der Ausnahmezustand habe die Gemeinschaft unter den Bewohnern in den vergangenen Monaten deutlich gestärkt. Zwar habe er das Fahrradfahren vermisst, so ­Winkenbach, doch von Langeweile könne keine Rede sein. Auch in den vergangenen Monaten konnten die Bewohner aus einem Gros an Aktivitäten auswählen: Montags Singkreis, mittwochs Gemeinschaftsabend, donnerstags Kirchencafé, samstags Gottesdienst und sonntags Bolero-Tanzen - alles war mit kleinen Einschränkungen und Teilnehmerbegrenzung die ganze Zeit über weiter möglich. „Und wir spielen ja auch mehrmals die Woche Boccia, also ich habe hier eigentlich nur Stress", fügt ­Walter ­Winkenbach mit breitem Grinsen hinzu.

Auch Detlef Nieding muss schmunzeln. Der 81-Jährige ist ein Neuling in Es Castellot. Das merkt man allerdings nicht. Sein Umgang mit Paula Meyer und Walter Winkenbach ist freundschaftlich, vertraut. „Mit Sicherheit hätte es unter normalen Umständen länger gedauert", sagt er. Es war Anfang Februar 2020, als der Hamburger von Deutschland ins Es Castellot zog. „Ich bin praktisch hier heruntergekommen, um eingesperrt zu werden", sagt er, doch nicht Gram, sondern ein gutmütiges Lächeln umspielt seine Lippen. Wenige Wochen nach seiner Ankunft durften die Bewohner das Gelände erstmals nicht mehr verlassen. „Vom 15. März bis 11. Juni", liest er von seinen Notizen ab. Dann noch einmal im Spätsommer, als eine Mitarbeiterin positiv getestet worden war. Und dann wieder seit Anfang Oktober. Eigentlich war Nieding hergezogen, um seinem Sohn und dessen Familie näher zu sein, die seit Jahren auf Mallorca wohnen. Gesehen hat er seine Enkelkinder allerdings vor allem getrennt durch das grüne Eingangstor. Denn auch die Besuchsregeln sind streng und werden es auch bis auf Weiteres bleiben: Erlaubt ist nur eine Person pro Tag, sie darf eine Stunde kommen, heißt es im balearischen Gesundheitsministerium.

„Als wir nun wieder rausdurften, bin ich als Erstes zu meinem Sohn gefahren. Es war Valentinstag, und sie veranstalteten einen Brunch", sagt Nieding heiter. Er bereue seinen Umzug nicht. „In Hamburg hätte ich mich frei bewegen dürfen. Aber jegliche kulturelle Veranstaltung fällt da ja auch weg, also hätte ich vermutlich vor ­allem allein in der Wohnung gesessen." Kein Vergleich zum ausgeprägten sozialen Leben, das er nun in der Residenz führt.

Überhaupt fühlen sich Paula Meyer, Detlef Nieding und Walter Winkenbach in Es Castellot besser aufgehoben als in der Heimat. „Wir werden hier alle drei bis vier Wochen kostenlos getestet, wir wurden vor Ort geimpft, und wir müssen uns um nichts kümmern", sagt Walter ­Winkenbach. Damit die Bewohner immer auf dem neusten Stand sind, verschicken Leiterin Regina Moll und ihr Team ­wöchentlich Info-Blätter an die Bewohner. In dringenden Fällen - die Auflagen kommen ja bekanntlich oft überraschend - schieben sie die News auch unter dem Schlitz der Wohnungstüren hindurch.

Die Lebenszeit nutzen

„Mein Team hat Großartiges geleistet in dieser Zeit", meint Moll. „Dennoch merken wir, dass es den Bewohnern teilweise aufs Gemüt schlägt." Bei den Demenzkranken sei die Krankheit schneller fortgeschritten, als es normalerweise geschieht. Und auch diejenigen, die noch fit sind, litten in vielen Fällen unter der Situation.

„Junge Leute haben noch so viele Jahre vor sich, da fällt es nicht so ins Gewicht, wenn sie sich wegen der Pandemie ein Jahr lang einschränken müssen. Aber in meinem Alter fragt man sich schon: Verbringe ich nun die letzte Zeit meines Lebens in dieser Situation", sagt Paula Meyer. Die 89-Jährige, die früher als Reiseleiterin gearbeitet hat, musste seit Pandemie-Beginn drei Besuche in die Schweiz zu ihrer Tochter absagen, ebenso einen Marrakesch-Urlaub. „Und ich wollte zu meinem 90. so gern nach Dubai reisen." Aufgeschoben ist nicht aufgehoben - dieser Ausspruch gelte eben nicht mehr uneingeschränkt, wenn man über 80 sei. Schließlich ist da ihr Arthrose-Knie. „Man weiß ja nicht, ob man im nächsten Jahr noch in der Lage ist zu reisen." Gut, dass es wenigstens den Fitnessraum gibt, wo sie auf dem Heimtrainer regelmäßig gegen das Einrosten anschwitzen kann.

Nach dem Gespräch mit der Mallorca Zeitung verläuft sich die Gruppe, Paula Meyer und Detlef Nieding setzen sich mit Stühlen in die Nähe des Pools, der von den letzten Sonnenstrahlen des Tages beschienen wird, um noch ein bisschen zu plaudern und den Meerblick zu genießen. In einem der vielen Nebengebäude hat sich bereits der Singkreis zusammengefunden. Sie sei froh, wenn der Corona-Spuk vorbei sei, sagt Regina Moll auf dem Weg zurück zum grünen Eingangstor. Wenn alles gut geht, kann es bald wieder allen Besuchern uneingeschränkt offen stehen.