Lange habe ich mich ein wenig geziert, es zu sagen - von wegen: Das ist doch nicht standesgemäß für einen Chefredakteur! -, aber ich lebe seit 13 Jahren, seit meiner Ankunft auf Mallorca, in Palmas Stadtviertel Pere Garau. Wegen der Nähe zum Arbeitsplatz, weil meine Frau und ich hier eine Wohnung gefunden haben, die uns sehr gefällt, und weil sie nur einen Häuserblock entfernt ist von einer Markthalle, die wir sehr schätzen. Doch dazu später mehr.

Hier leben wir, in einer unansehnlichen Straße in dem Viertel mit einer der höchsten Bevölkerungsdichten Palmas. Es ist so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was man sich deutschlandläufig von einer idyllischen Mallorca-Bleibe mit Pool und Palme, Meerblick oder altem Gemäuer erwartet. Das Anfang des 20. Jahrhunderts im Zuge der Erweiterung Palmas über die ehemaligen Stadtmauernhinaus entstandene Viertel weist zwar etliche schöne Bauten etwa aus den 30er-Jahren auf, sie sind aber inmitten des städtebaulichen Wildwuchses und der vielen Sündenfälle spanischer Nullachtfünfzehn-Architektur nur auf den zweiten Blick erkennbar.

Es ist ein Einwandererviertel, von Anbeginn an: Zunächst fanden hier die Mallorquiner vom Dorf eine Bleibe in der Stadt, später kamen die Festlandspanier hinzu, viele von ihnen angelockt von den Jobs im Tourismus. Auch Handwerker, Automechaniker, Postangestellte zogen hierhin. Das nach dem Ingenieur, der die Zugverbindung nach Sóller entwarf, Pere Garau genannte Viertel war und ist ein Quartier der „kleinen Leute".

Von den Mallorquinern und Festlandspaniern sind über die Jahre hinweg viele wieder weggezogen, etwa in die Neubausiedlungen am Stadtrand. Nachgezogen sind in mehreren Schüben Arbeitseinwanderer aus aller Welt. Die Marokkaner und Algerier, die Kolumbianer, Bolivianer oder Ecuadorianer, die Rumänen und Bulgaren, die Chinesen und Pakistanis, die Senegalesen und Nigerianer. Mit ihren Geschäften, Friseursalons, Bars und Glaubenseinrichtungen prägen sie das Bild des Viertels. „Tot un món en un barri", lautet einer der Slogans der Stadtteilinitiative „Flipau amb Pere Garau": „Die ganze Welt in einem Quartier."

Das Leben kreist um eine Markthalle, die (noch) Markt- und nicht Fresshalle ist, und auf deren Nord- und Südseite dienstags, donnerstags und samstags ein großer Wochenmarkt stattfindet, auf dem auch noch einige Landwirte ihre Erzeugnisse verkaufen. Coronabedingt auf montags, mittwochs und freitags verlegt sind mittlerweile die Stände der Gitanos, der spanischen Roma, die hier Büstenhalter, Handtaschen oder Stoffbahnen feilbieten. Und rundherum die fleißigen und geschäftstüchtigen Chinesen mit ihren rund um den Platz übernommenen Bars und ihren Plastikhöllen, Lebensmittelgeschäften und Lokalen.

Das ist alles bunt, aber nicht glamourös, sondern bestenfalls geerdet. Und leider oft auch: schäbig. Es gibt so gut wie keine Parks, die Straßen sind schmutzig, der öffentliche Raum verkommt. Es mag eine Rolle spielen, dass hier so viele Kulturen nebeneinanderher leben, was das Gemeinschaftsgefühl erschwert, ebenso wichtig ist aber wohl, dass hier so viele Menschen am Existenzminimum leben. Oder darunter. Drastisch ausgedrückt: Wer im Müllcontainer wühlen muss, dem ist es egal, wenn danach der Müll daneben liegen bleibt.

Dieses Viertel schreit schon seit vielen Jahren - ebenso wie das benachbarte und noch benachteiligtere Son Gotleu - nach einer großflächigen Intervention seitens der Stadt, nach Sozialarbeitern und Polizeistreifen, nach Jugendzentren und Freizeitangeboten. Doch es tut sich so gut wie nichts, und im viel zu kleinen Gesundheitszentrum quillt das Abwasser weiter aus den Leitungsrohren.

Nun soll es der freie Markt richten. Die Stadt will mit drei Millionen Euro den Carrer Nuredduna herrichten, eine Stichstraße vom Innenstadtring ins Viertel, die einmal so werden soll wie die verkehrsberuhigten Carrer Fábrica und Carrer Blanquerna und über Francisco Manuel de los Herreros bis zur Markthalle führen könnte. Wie die Besiedlungsfront entlang der Schneisen der Holzfäller im Amazonas-Urwald würde dann dort die Gentrifizierungsfront verlaufen.

Ihre Vorboten waren bereits Mitte 2019 zwei mallorquinische Galeristinnen, die ein schickes Restaurant eröffneten, in dem die marokkanisch geprägten Gerichte doppelt so teuer sind wie in den einfachen Einwandererlokalen nebenan. Und nun ein paar Meter weiter das Nou Balears, ein Vier-Sterne-Haus, das erste Hotel im Viertel. Die Immobilienpreise ziehen schon seit Jahren an, getrieben von Zuzüglern, die sich die teuren Wohnungen in „besseren" Vierteln der Stadt nicht mehr leisten können, aber auch von wohlhabenden Ausländern, die hier ihre finanziellen Überschüsse investieren: Deutsche, die sich eine Bleibe für die Ferien leisten, Franzosen, die ein ganzes Haus kaufen, um darin Mietwohnungen herzurichten, Schweden, die auf ein Bauvorhaben spekulieren.

Und so ist viel von „Aufwertung" die Rede, dieser Tage in unserem Schmuddelviertel. Da ist etwas dran: Das Hostal Balears wäre andernfalls womöglich tatsächlich verfallen, und auch vielen anderen Gebäuden tun die privaten Investitionen gut. Und sicher profitiert das Viertel auch vom Zuzug kaufkräftigerer, bürgerlicherer Bewohner. Wenn das so weiter geht, wird man vielleicht sogar eines Tages als Chefredakteur ganz selbstbewusst sagen können: Ich wohne in Pere Garau. Wobei: Ich habe mir diesen Standesdünkel schon lange abgewöhnt. Und auch das mit der Aufwertung ist zweischneidig: Es ist eine Aufwertung für jene, die Geld und Besitz haben - und die Verdrängung und faktische Abwertung aller anderen.