Die ehemalige Bürgermeisterin von Palma und sozialistische Politikerin Aina Calvo ist als Delegierte der Zentralregierung auf den Balearen unter anderem für die Sicherheitskräfte auf den Inseln und die Grenzkontrollen verantwortlich.

Hat die Corona-Krise die Ankunft der Migranten beschleunigt?

2019, als ich meinen Posten antrat, gab es viel weniger Ankünfte, und diejenigen Migranten, die ankamen, wurden alle aufs Festland in ein Zwischenlager gebracht, von wo aus sie möglichst bald wieder in ihre Heimat zurückgeschickt wurden. Mit der Corona-Krise schlossen sich die Grenzen. Die Zwischenlager mussten ihre Aufnahmefähigkeiten wegen der Abstandsregeln reduzieren. Es landen also weniger Menschen dort und so gut wie niemand wird nach Algerien zurückgeführt. Das hat dazu geführt, dass im Jahr 2020 1.464 Menschen ankamen. Zum Vergleich: 2019 waren es nur 507 und im Jahr davor 199.

Die Überfahrten sind offensichtlich koordiniert. Was wissen Sie über die, die sie organisieren?

Das sind Schlepperbanden, die von Algerien aus operieren. Die spanische Regierung arbeitet eng mit den algerischen Behörden zusammen, um die Netzwerke zu identifizieren und die Schleuser festzunehmen. Das Ziel ist, dass die Festnahme bereits in Algerien stattfindet. Aber wir hatten erst vor Kurzem auf Ibiza eine Festnahme eines Schleppers und vergangenes Jahr gab es auch zwei Festnahmen.

Wer sind die Migranten, sind das alles Algerier?

Hauptsächlich, ja. In jüngster Zeit sind aber auch mehr und mehr Menschen aus Ländern südlich der Sahara dabei, die sich als Migranten bereits in Algerien irregulär aufhalten. Es sind vor allem junge Männer. Sie emigrieren, weil sie ein besseres Leben in Europa suchen. Und häufig haben sie schon Familienangehörige, die etwa in Frankreich oder Belgien leben.

Wie viel kostet sie die Überfahrt?

Das wissen wir nicht ganz sicher. Wir haben einmal von jungen Männern gehört, die 3.000 Euro gezahlt haben. Nur wenige erzählen uns da Genaueres. Die meisten wollen nicht darüber reden. Es könnte auch weniger sein. Das ist nur ein Fall unter vielen.

Wo stechen die Migranten in See?

Diejenigen, die auf den Balearen ankommen, machen sich alle von Algerien aus auf den Weg. Einige Zeit lang starteten sie alle in der Stadt Dellys. Aber inzwischen machen sich die Menschen auch aus anderen Orten oder kleinen Städten in Algerien auf nach Europa.

Wie viele Stunden sind sie unterwegs?

Das ist sehr unterschiedlich. Wenn das Meer ruhig ist und mit dem Boot alles funktioniert, dann sind es im Bestfall rund 20 Stunden. Aber es gibt immer wieder auch Boote, die zwei oder drei Tage unterwegs sind. Wir hatten auch schon Beispiele von Überfahrten, in denen der Motor ausgefallen ist und die Menschen bereits zwei oder drei Tage gerudert sind, um vorwärtszukommen.

Wissen Sie von Mutterschiffen, die bis in die Nähe von Mallorca fahren und dann die Migranten in kleinen Booten ins Wasser lassen?

Es deutet derzeit nichts darauf hin. Zumindest hat die Polizei keine entsprechenden Hinweise. Die meisten kommen in kleinen Motorbooten an. Es gab aber bereits Fälle, da waren die Migranten in großen Segelbooten unterwegs oder sogar einmal in einer Motoryacht.

Wie groß ist die Gefahr der Überfahrt?

Uns liegen keine exakten Daten darüber vor, wie viele Menschen auf dem Meer ums Leben kommen. Aber wir bekommen hin und wieder Anrufe von Müttern, die wussten, dass ihre Söhne in einem Boot unterwegs waren, aber nie wieder etwas von ihnen gehört haben. Dass es Tote gibt, auch auf der Route auf die Balearen, steht außer Zweifel. Besonders in Gefahr sind natürlich vor allem Schwangere und kleine Kinder, von denen aber nur wenige dabei sind.

Wie viele der Migranten sind minderjährig?

Nicht viele. Im vergangenen Jahr waren von den knapp 1.500 die hier ankamen, nur etwa 40 Minderjährige. Viele behaupten zwar, sie seien minderjährig. Aber bei entsprechenden Tests im Krankenhaus von Son Espases kann das oft ausgeschlossen werden.

Was geschieht mit ihnen, wenn sie hier ankommen?

Wenn sie noch bei der Überfahrt lokalisiert werden, kommt die Guardia Civil oder die Seenotrettung zur Hilfe und bringt die Menschen in einen der Häfen auf Mallorca. Manche Migranten werden aber auch erst auf der Insel aufgespürt. Die Polizei nimmt dann die Personalien auf und bringt sie erst einmal auf der Wache unter, meist in Palma. Um die Erstversorgung kümmert sich das Rote Kreuz. Auch ein Corona-Test erfolgt.

Was passiert mit denen, die positiv getestet werden?

Die meisten von ihnen kommen direkt ins Krankenhaus. Einige wenige und diejenigen, die als enge Kontakte identifiziert werden, kommen in eines der Covid-Hotels.

Wie viele der Migranten werden bei ihrer Ankunft positiv auf Covid-19 getestet?

Im vergangenen Jahr lag die Zahl der Infizierten unter fünf Prozent.

Und die, die nicht infiziert sind?

Sie bleiben unter Obhut der Nationalpolizei. Sie stellt ein Abschiebebescheid aus. Die Bearbeitung der Fälle darf maximal 72 Stunden dauern, dann kommen die Menschen aufs Festland, wo sie von Nichtregierungsorganisationen humanitär versorgt werden.

Und niemand von ihnen wird in die Zwischenlager auf dem Festland eingewiesen?

Sehr wenige. Wenn in einem der Zwischenlager Platz wäre, würden sie dort hinkommen. Aber das ist kaum der Fall. Außerdem weist derzeit kein Richter auf den Balearen die Migranten einem Zwischenlager zu, weil die Grenzen zu Algerien geschlossen sind. Ab und zu öffnet Algerien sporadisch die Grenzen, dann können einige wenige zurückgeführt werden. Das sind dann meist Migranten, die auf dem Festland ankamen, weil das viel mehr sind. Diejenigen, die auf die Inseln gelangten, können in der Regel humanitär gut versorgt werden.

Bei s’Aranjassa nahe der Playa de Palma ist ein Zwischenlager für Migranten geplant, stößt allerdings bei Anwohnern und der Opposition auf Kritik. Gibt es angesichts der steigenden Zahlen an Migranten überhaupt eine Alternative?

Man muss vor allem wissen, dass das, was in s’Aranjassa geplant ist, mit einem der Zwischenlager, wie es sie auf dem Festland gibt, nichts zu tun hat. Das Lager hier wäre lediglich provisorisch aus Zelten aufgebaut, falls es zu einer gehäuften Ankunft von Migranten kommt, die sonst nicht untergebracht werden könnten. Sie würden lediglich die maximal vorgesehenen 72 Stunden dort bleiben und dann weiter aufs Festland reisen. Die Zwischenlager, die es auf dem Festland gibt, sind richtige Gebäude und keine Zeltstädte. Dort bleiben die Menschen zumeist mehrere Monate lang. Das Lager hier auf der Insel wären tatsächlich nur dazu gedacht, die Menschen in Empfang zu nehmen und von dort aus weiterzuschicken.

Wie viele der Migranten machen sich vom Festland aus weiter in Richtung Mitteleuropa auf?

Das wissen wir nicht. Sobald die Migranten, die auf den Balearen ankommen, auf dem Festland unter der Obhut der Nichtregierungsorganisationen sind, verlieren wir ihre Spur. Natürlich sind alle mit einem Abschiebebescheid unterwegs. Wenn sie kontrolliert werden, können sie zurück in ihre Heimat geschickt werden.

Wie groß ist die Gefahr, dass unter den Migranten Islamisten sind?

Die Männer werden identifiziert und überprüft. Deshalb ist es unredlich zu sagen, die illegale Einwanderung begünstigt den Terrorismus. Das ist schlicht nicht wahr.

Kommt die Zunahme der Migration auch daher, dass sich inzwischen herumgesprochen hat, dass kaum jemand zurückgeschickt wird?

Das wussten die meisten schon länger. Die Menschen in Nordafrika haben ja denselben Zugang zu Information wie wir hier. Sie sehen unsere Youtube-Videos und wollen sich unserem Lebensstil annähern. Und es ist ja ganz klar: Alle haben ein Recht auf Migration, aber sie muss unter geregelten und sicheren Bedingungen ablaufen. Und nicht, wie sie derzeit geschieht. Denn in See zu stechen, bedeutet ja nicht, dass man automatisch sicher wieder an der Küste ankommt.

Wie könnte es denn zu einer geregelten und sicheren Migration kommen?

Es wäre wichtig, Vereinbarungen mit den Herkunftsländern der Menschen zu treffen. Und das muss über den Arbeitsmarkt gehen. Die europäischen Länder können etwa für die Baubranche Mitarbeiter anwerben. Dafür braucht es Vereinbarungen für Aus- und Weiterbildung der Afrikaner, die migrationswillig sind. Europa muss aber auch in den afrikanischen Ländern investieren, um die Menschen vor Ort zu halten. Kurzfristig ist unsere Aufgabe, die Schlepperbanden zu bekämpfen und gegen die Vorstellung vieler junger Migranten vorzugehen, dass es ihnen in Europa viel besser geht. Und das passiert, wenn sie eine Arbeitsmöglichkeit haben. Da machen die Schlepperbanden vielen Männern auch etwas vor.