Mari Carmen arbeitet 48 Stunden in der Woche für ihren offiziellen Arbeitgeber, eine große Reinigungsfirma in Palma. Früh morgens putzt sie Büros und Toiletten im Akkord, zweimal pro Woche kommen ein Veranstaltungssaal und mehrere Konferenzräume hinzu. Ab und zu schickt ihr Chef sie auch zu einem anderem Auftrag­geber, wo noch mehr Büros und noch mehr Toiletten gesäubert werden wollen. Manchmal weiß Mari Carmen nicht, wie sie mit all der Arbeit überhaupt fertig werden soll. Am Monatsende bekommt sie dafür knapp 700 Euro. Das entspricht einem Stundenlohn von 3,50 Euro. Um über die Runden zu kommen hat die Mallorquinerin noch zwei Putzstellen in Privathaushalten, an einem Abend pro Woche reinigt sie zudem das Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses, schwarz natürlich.

Die Akte Mari Carmen - die Namen aller in diesem Artikel genannter Arbeitnehmer sind geändert - liegt gerade auf dem Schreibtisch von Esperança Barceló von der Gewerkschaft UGT in Palma. Während die Reinigungskraft der Meinung ist, ihr Vertrag sei gesetzeswidrig, ist sich der Arbeitgeber offenbar keiner Schuld bewusst. „Möglicherweise handelt es sich um einen Grenzfall, der gerade noch legal ist, das werden wir nun prüfen, sagt Barceló. Per Gesetz müssen Vollzeit-Arbeitnehmer in Spanien ein Monatsgehalt von mindestens 648,60 Euro (bei 14 Monatsgehältern) verdienen. Auf diese Summe hat das spanische Arbeitsministerium den Mindestlohn für das Jahr 2015 festgesetzt. Doch selbst wenn sich ein Unternehmer daran hält - eine Sache sei die Legalität, die andere die Frage, ob man damit ein würdiges Leben führen kann, sagt Esperança Barceló.

Menschen wie Mari Carmen gehörten dem neuen Prekariat an, das auf der Insel inzwischen eine beachtliche Bevölkerungsgruppe ausmacht: als sogenannte inframil­euristas, die im Schnitt weniger als 1.000 Euro im Monat verdienen, galten im Jahr 2013 balearenweit knapp 220.000 Personen, fast die Hälfte aller Arbeitnehmer. Einer von drei Beschäftigten brachte es nicht einmal auf den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn, so die neuesten verfügbaren Statistiken des spanischen Finanzministeriums.

Dass immer mehr Arbeitgeber die Löhne drücken, liegt Gewerkschafterin Barceló zufolge an der Angst, die in vielen Belegschaften umgeht. „Da lautet die Devise oftmals: gar nicht erst anfangen zu verhandeln, denn die Gefahr, dass sich die Bedingungen am Ende noch verschlechtern, ist zu groß." Zudem werden in vielen Unternehmen gar keine Tarifverträge mehr ausgehandelt - und das ist in den Augen von Isabel Castro, der Leiterin der General­direktion für Arbeit am balearischen Arbeitsministerium, der Arbeitsmarktreform geschuldet. Mit dem 2012 von der konservativen Regierung in Madrid verabschiedeten Gesetzeswerk sei es den Arbeitgebern freigestellt worden, ob sie mit ihren Beschäftigten einen eigenen Tarifvertrag aushandeln, sich an den Branchentarifvertrag der Gewerkschaften halten oder nur noch das „Statut der Arbeitnehmer" anwenden. Letzteres erfreue sich bei Unternehmern immer größerer Beliebtheit. Silvia Montejano von der Gewerkschaft CCOO nennt es „das Minimum vom Minimum vom Minimum" .

Seit jeher weit verbreitet ist das Lohndumping, vor allem in all den Bereichen, die man leicht an Fremdfirmen vergeben kann: Gebäude­reinigung, Gebäudeüberwachung und natürlich Bauarbeiten, die in absurden Vergabeverfahren von Subunternehmer an Subunternehmer weitergegeben werden, die mit Hungerlöhnen und Schwarzarbeitern kalkulieren müssen, wenn sie selbst noch Gewinn machen wollen. Doch mit der Krise, sagt Silvia Montejano, hätten sich diese Praktiken quer durch alle Branchen ausgebreitet - bis ins Transport- oder Gesundheitswesen. Outsourcing sei nicht mehr nur der Privatwirtschaft vorbehalten, sondern werde längst auch in Rathäusern, Ministerien oder Banken praktiziert, um etwa die Lohn­nebenkosten für eigene Putzfrauen zu sparen. „Dabei sollte die Verwaltung mit gutem Beispiel vorangehen und in den Ausschreibungen soziale Mindeststandards festlegen", fordert die Gewerkschafterin.

Pablo arbeitet seit gut einem halben Jahr als Krankenpfleger in einer privaten Klinik auf Mallorca. Die Arbeit macht ihm viel Freude, seine Vorgesetzten sind sehr zufrieden mit ihm. Eine Festanstellung hat Pablo dennoch nicht in Aussicht. Das Unternehmen verlängert seinen Vertrag - und den vieler Kollegen, darunter auch Krankenschwestern oder Fachärzte - nur monatsweise. Je näher das Monatsende rückt, desto besorgter stellt sich Pablo ein ums andere Mal die Frage: Geht es weiter? Und wenn ja, wie? Denn auch das Arbeitsvolumen - und parallel dazu das Gehalt - variieren von Monat zu Monat. Mal fallen für Pablo nur zehn Schichten ab, mal arbeitet er Vollzeit und kann nicht einmal die ihm zustehenden freien Tage nehmen. Urlaubs­planung ist da nicht möglich - Lebensplanung schon gar nicht.

Zwar sind die neuesten Arbeitslosenzahlen auf den Balearen verglichen mit den Vorjahren weiter rückläufig, während die Zahl der neu unterzeichneten Verträge im September im Vergleich zum Vorjahresmonat um 60 Prozent stieg. Doch die Statistiken haben einen Schönheitsfehler: Die größten Zuwachse wurden bei den auf maximal sieben Tage ­begrenzten Arbeitsverträgen verzeichnet. „Die neu entstehenden Jobs sind zum Großteil prekäre Arbeitsverhältnisse", sagt Montejano von der CCOO. Viele Arbeitgeber würden ihr Personal für eine oder zwei Wochen anstellen - und wenn das Geschäft gut läuft, gegebenenfalls verlängern.

Für die Tourismusbranche ist das Geschäft in den vergangenen Jahren prächtig gelaufen, Mallorca durfte sich gerade über die vierte Rekordsaison in Folge freuen. Trotzdem mussten im August der Jahre 2012 bis 2015 im Schnitt 92 Prozent der Branchenbeschäftigten mit einem Zeitvertrag Vorlieb nehmen, erläutert Montejano. Auf diese Weise würden die Unternehmen niedrigere Beiträge an die Sozialversicherung zahlen - und sparten sich obendrein hohe Abfindungszahlungen, falls sie ihre Angestellten doch mal auf die Schnelle loswerden wollen.

In einer stark saisonabhängigen Branche wie dem Tourismus mögen befristete Arbeitsverträge noch ihre Daseinsberechtigung haben. Doch selbst Saisonarbeit sei nur in einem bestimmten Maß zulässig, erklärt Isabel Castro aus dem balearischen Arbeitsministerium. „Es muss immer eine fest angestellte Stammbelegschaft geben, etwa drei Verkäuferinnen, zu denen im Sommer drei Saisonkräfte kommen." Dass man in manchen Läden oder Lokalen fast nur befristetes Personal fände, sei auf der Insel aber leider keine Seltenheit. „Was eigentlich als Ausnahme gedacht ist, ist in vielen Branchen längst zur Normalität geworden", sagt Castro. Zusätzliches befristetes Personal diene längst nicht mehr dazu, Produktionsspitzen oder einen großen Sonderauftrag zu meistern, sondern um die ganz gewöhnliche Arbeit zu verrichten. Auf dem Bau oder in der Reinigungsbranche sei es üblich, dass Arbeitnehmer für einen bestimmten Auftrag oder ein bestimmtes Gewerk eingestellt werden, dann aber von Baustelle zu Baustelle oder von Bürogebäude zu Bürogebäude geschickt werden.

Laura ist Anfang 30 und teilt sich mit ihrer Mutter eine Drei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Palma. Eine eigene Bleibe ist angesichts ihres mickrigen Gehalts als Verkaufs­gehilfin in Teilzeit in einer Parfümerie leider nicht drin. Die Arbeitszeiten teilt der Chef ein, wie es ihm gerade gefällt, mal vormittags, mal nachmittags, mal beides. Mal in dieser Filiale, mal in jener. Mit einem zweiten Job sei das nicht vereinbar, bedauert die junge Frau, die kein Auto besitzt, noch nie ins Ausland gereist ist, nichts ins Kino und nicht auf Konzerte geht und beim Bestellen in der Bar - falls sie am Wochenende mal ausgeht - auf jeden Cent achten muss. Hinzu kommt, dass sie alle sechs bis acht Monate darauf hoffen muss, dass ihr Arbeitsvertrag verlängert wird. „Contrato de fin de obra" nennt sich das in der Fachsprache, also ein Arbeitsverhältnis, das auf die Dauer, die etwa das Erledigen eines bestimmten Auftrages erfordert, begrenzt ist. „Mein Vetrag ist einfach nur Bullshit", nennt es Laura. „Meiner und der der meisten Kolleginnen."

Auch für diese neue Art der Flexibilität, die viele Arbeitnehmer zum Spielball der Unternehmen werden lässt, machen die Gewerkschaften die Arbeitsmarktreform von 2012 verantwortlich. Das neue Gesetz habe nicht nur dazu geführt, dass die Arbeitsverträge auf immer kürzere Zeit befristet werden. Auch die Zahl der Teilzeitverträge - egal ob befristet oder unbefristet - sei in den vergangenen Jahren stark gestiegen, sagt Isabel Castro aus dem Arbeitsministerium. Das liegt vor allem daran, dass Teilzeit­beschäftigte nun unter bestimmten Bedingungen auch Überstunden machen dürften. „Hierbei wird jedoch getrickst, was das Zeug hält weil es zu viele Schlupflöcher gibt." Viele Arbeitnehmer etwa würden die zusätzlichen Stunden ihrer Angestellten nicht an die Sozialversicherung melden und so weiterhin die niedrigeren Beiträge bezahlen. Die Gefahr, aufzufliegen, war bisher offenbar nicht allzu groß - obwohl der exorbitante Anstieg der Teilzeitverträge auf Mallorca ­während der Hauptsaison Isabel Castro zufolge so gar nicht ins Bild passt: „Hier müssten doch im Sommer alle Vollzeit beschäftigt sein."

Sofort nach dem Amtsantritt der Linksregierung im Juni startete das balearische Arbeitsministerium deshalb eine „Kampagne gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz". Sechs Wochen lang waren im August und September zusätzlich zu den 48 Mitarbeitern der balearischen Arbeitsaufsicht 31 Inspektoren vom Festland auf den Inseln im Einsatz. Sie nahmen insbesondere verdächtige Teilzeit- und Zeitverträge ins Visier - und landeten im Schnitt bei jeder vierten Kontrolle einen Treffer: Bei etwa 2.000 der 8.000 überprüften Verträge wurden Unregelmäßigkeiten festgestellt.

„Viele Verträge mussten daraufhin in unbefristete oder Vollzeitverträge umgewandelt werden", sagt Castro, die vor ihrem Amt als Generaldirektorin viele Jahre selbst bei der Arbeitsaufsicht tätig war. Die aufgedeckten Verstöße seien ein Erfolg - aber erst die Spitze des Eisbergs. Um gegen die Arbeitsverträge im Graubereich zwischen Legalität und Betrug anzukommen, reiche es nicht aus, die Arbeitgeber mit verstärkten Kontrollen einzuschüchtern. „Abhilfe schaffen kann letztlich nur eine spanienweite Gesetzesänderung, und hierfür bräuchte es einen Regierungswechsel in Madrid."

Luis hat in diesem Sommer als Koch in einem Hotel in Palmanova gearbeitet. Eigentlich nur Teilzeit, doch im Juli und August kam er nicht selten auf 80 Stunden die Woche. In der Gastronomie würden einem die dreistesten Dinge angeboten: für vier Euro die Stunde zu arbeiten, die Hälfte davon schwarz, und wenn man es nicht macht, käme eben der Nächste aus der Schlange an die Reihe. Luis nahm es in Kauf - und zahlte eine hohen Preis: seine Freundin hatte es satt, monatelang keinen Abend und kein Wochenende mit Luis verbringen zu können, und gab ihm den Laufpass. Aus dem lang ersehnten, gemeinsamen Urlaub im Winter wäre allerdings ohnehin nichts geworden: Der Verdienst aus seinem Saisonjob wird hinten und vorne nicht ausreichen, um damit bis zum nächsten Frühjahr über die Runden zu kommen. Statt zwei Monate zu reisen, wie früher, jobbt er nun als Aushilfe in einem Klamottenladen.

Die sozialen Folgen der Vielzahl an prekären Arbeitsverhältnissen sind inzwischen nicht mehr zu leugnen. Immer mehr Menschen mit Job seien auf Sozialhilfe angewiesen, heißt es in einem Bericht von Caritas Mallorca. Zudem bekämen viele Kinder nicht mehr drei anständige Mahlzeiten am Tag und würden oftmals mit knurrendem Magen in der Schule erscheinen. Einer Umfrage des Nationalen Statistikinstituts zufolge können sich 44 Prozent der Balearen-Haushalte keinen Urlaub leisten, 40 Prozent können keine unvorhergesehenen Ausgaben stemmen, fast 20 Prozent sind bei der Abbezahlung der Hypothek im Rückstand.

Während die junge Generation wieder bei Mama und Papa einziehe, seien die Anträge für Plätze in Senioren­wohnheimen seit Jahren rückläufig, weiß Gewerkschafterin Barceló zu berichten. „Das ist an sich schön, dass wieder mehr Leute zu Hause alt werden dürfen, aber diese Entwicklung ist allein der Tatsache geschuldet, dass die Alten mit ihrer Rente oftmals den Unterhalt für die ganze Familie bestreiten."

Sie und ihre Kollegin Montejano wünschen sich deshalb vor allem sichere, stabile Arbeitsverhältnisse. „Das ist kein hoher Anspruch, sondern eigentlich nur das, was uns laut Verfassung zusteht", sagt Silvia Montejano. „Damit die Menschen in Würde ihren Lebensunterhalt bestreiten, sich vielleicht ein Haus kaufen können." Und wieder Pläne für die Zukunft machen können.