Im Vorfeld der Wahlen zum Deutschen Bundestag am 24. September hat die MZ Interviews mit Spitzen­politikern der wichtigsten deutschen Parteien beantragt. Neben der FDP - Christian Linder - reagierte auch Die Linke. Dietmar Bartsch (Stralsund, 1958) ist zusammen mit Sarah Wagenknecht Fraktionsführer der Linkspartei im Bundestag. Wir führten das Gespräch am Telefon.

Wie läuft der Wahlkampf?

Anstrengend. Am Wochenende Mecklenburg-Vorpommern, gestern Bundestagsdebatte, jetzt Abflug nach Baden-Württemberg, jeden Tag mindestens drei Veranstaltungen... Manchmal denke ich, dass ich mir selbst auf der Autobahn begegne. Es ist intensiv und spannend, und mir macht das auch ein bisschen Spaß.

Hat Martin Schulz noch eine Chance?

Der Abstand der SPD zur Union ist größer als der von FDP oder Linken zur SPD. Wenn von uns einer sagen würde, wir überholen die SPD noch, würden alle schallend lachen. Den ersten Platz wird die SPD nicht mehr erringen, Platz eins und zwei sind geklärt.

Die Briefwahl wird immer beliebter. Bei der Bundestagswahl 2013 haben 18,2 Prozent der Wähler per Briefwahl gestimmt, vier Jahre zuvor waren es 15,4 Prozent. Wie wählen Sie?

Ich wähle in meiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern und habe die Chance, Angela Merkel in ihrem Wahlkreis nicht zu wählen, weil mein Hauptwohnsitz dort liegt. Ich wähle nicht per Brief, das ist ein Stück weit Ehrensache, weil ich auch in der Wahlnacht von Sonnabend zu Sonntag soliden „Kneipenwahlkampf" in meinem Direktwahlkreis machen werde.

Kneipenwahlkampf?

Am Sonnabend, wenn die letzte Veranstaltung auf dem Marktplatz in Rostock vorbei ist, ziehen wir durch die Kneipen und reden beim Bier mit den Leuten, um sie noch davon zu überzeugen, am nächsten Tag zur Wahl zu gehen und die Erststimme mir und die Zweitstimme der Linken zu geben.

Viele sind bei dieser Wahl noch unentschlossen, etwa ­46 Prozent wissen noch nicht, wen sie wählen werden, so eine Allensbach-Umfrage von August. Bei der Wahl 2013 waren es im selben Zeitraum 39 Prozent. Wie kommt das?

Das hat vor allem damit zu tun, dass es bei der Wahl keine wirkliche Alternative zwischen Union und SPD, keine politische Richtungsentscheidung gibt. Das führt vielleicht dazu, dass es nicht zuallererst um Union und SPD geht, sondern dass viele Menschen überlegen, wen sie zur dritten Kraft machen.

Laut einer Umfrage von Infratest Dimap wollen 71 Prozent der Deutschen nicht, dass Rot-Rot-Grün im Bund regiert. Was wäre, wenn Martin Schulz noch auf den letzten Metern des Wahlkampfes Sie ganz klar als Koalitionspartner ausschließen würde?

Das würde die SPD noch mal viel kosten. Martin Schulz ist klug genug, das nicht zu tun. Wissen Sie, das Gerede über Koalitionen nutzt vor allem den Konservativen, die wollen, dass wir übereinander

herziehen und gegeneinander reden. Das ist in der Vergangenheit leider erfolgreich gewesen, wir sollten das nicht fortsetzen, trotz aller Differenzen.

Warum sollten deutsche Mallorca-Residenten Die Linke wählen?

Ein erster Grund ist unser Agieren in der Außenpolitik. Die Linke ist strikt dagegen, dass Waffen in alle Welt exportiert werden, dass Soldaten in alle Welt geschickt werden. Das hat nur dazu geführt, dass die Welt unsicherer geworden ist, dass der Terrorismus nach Europa gekommen ist. Die Logik der Bombardierungen ist etwa in Afghanistan und Syrien nicht aufgegangen. Wir brauchen einen friedlichen Weg. Das heißt zuerst, Waffenexporte zu stoppen. Das zweite Argument ist, wir stehen für Europa. Nach zwölf Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel ist Europa in einem schlechten Zustand. Da sind der Brexit, die nicht bewältigte Finanzkrise, der Rechtsruck in vielen europäischen Ländern. In Spanien zählt die Jugendarbeitslosigkeit dazu, wenn auch nicht so auf den Inseln. Da wächst eine Generation der Hoffnungslosigkeit heran. Natürlich ist das alles nicht allein Merkels Schuld, aber deutsche Spar-, Droh- und Abschottungspolitik hat schon wesentlich dazu beigetragen.

Die Arbeitslosenzahlen in Spanien haben sich seit der Krise 2013 von 21,6 Prozent auf derzeit 17,7 Prozent verbessert...

Selbst wenn sich die Arbeitslosenzahlen in Spanien verbessert haben, sind die absoluten Zahlen ein erhebliches Problem. Schauen Sie sich Griechenland an. Die Politik von Merkel und Schäuble hat die Spaltung in den Gesellschaften größer werden lassen. Deutsche Exporte, basierend auf wachsender prekärer Beschäftigung, haben andere EU-Staaten in die Krise gestürzt.

Was ist das letzte große Thema, das Sie von der Inselpolitik mitbekommen haben?

Natürlich die Debatte um das Tourismusgesetz. Jetzt gibt es durch das Moratorium vielleicht die Gelegenheit, dass man für mehr ­Ordnung bei der Ferienvermietung sorgen kann. Das ist eine Sache, die auch bis nach Deutschland dringt. Und wenn eine Steuer erhöht wird, bewegt das auch die Deutschen.

Sie meinen die Anhebung der Touristensteuer um 100 Prozent.

Genau.

Ist das eine gute Idee?

Ach, wissen Sie, wenn Steuern erhöht werden und jemand sagt -

noch dazu im Wahlkampf! -, das ist eine gute Idee, dann ist der völlig raus. Für diejenigen, die die Steuer zahlen müssen, ist das natürlich keine gute Lösung. Aber da bin ich jetzt zu weit weg, als dass ich da etwas wirklich

Seriöses sagen kann. Ich bin immer dafür, dass dort die Entscheidungen getroffen werden, wo sie hingehören. Da wäre ein Hinweis eines Bundespolitikers aus Deutschland nicht zielführend.

Auf Mallorca ist eine Art Wahlplakat der FDP aufgetaucht, auf dem steht: „Auch im 17. Bundesland darf man wählen." Können Sie nachvollziehen, dass es Menschen gibt, die sich darüber ärgern?

Ja. 17. Bundesland ist eine Anmaßung, die ich daneben finde. Das kommt mit dem Hintergrund der deutschen Geschichte selbst ironisch nicht gut an. Würden Holländer deutsche Campingplätze zu niederländischen Exklaven erklären, fänden wir das auch nicht prickelnd. Die Umfragen haben die FDP wohl dazu verleitet, den alten Größenwahn wieder aufleben zu lassen.

Wann waren Sie zum letzten Mal auf Mallorca?

Das ist in etwa zwei Jahre her, ich habe da Freunde und komme gelegentlich zum Entspannen auf die Insel. Aber wenn man an der Ostseeküste wohnt, ist der Drang nicht ganz so groß, ans Meer zu fahren.

Die vielen Yachten der Superreichen in den Buchten von Mallorca dürften Ihnen nicht gefallen, da Sie häufiger von obszönem Reichtum sprechen. Ab wann beginnt für Sie, Reichtum obszön zu werden?

Wenn in Deutschland die Zahl der Milliardäre steigt, dann hat das nichts mehr mit Leistung zu tun. Das ist in der Regel vererbt und zumindest in dieser Höhe leistungslos. Das bezeichne ich dann als obszön. Aber ich werfe das denjenigen nicht vor. Ich werfe es denen vor, die ein Land steuern und eine Balance herstellen sollten. Milliardäre braucht kein Land. Wenn in Deutschland die 500 reichsten Familien über ein Vermögen von 692 Milliarden verfügen - das sind zwei Bundeshaushalte - dann ist etwas schiefgelaufen. Wir wollen niemanden enteignen, aber wir wollen schon eine angemessene Beteiligung am Gemeinwesen.

Was wären die ersten drei Dinge, die Sie im deutschen Steuersystem ändern würden?

(Holt tief Luft) Also wir müssten im Einkommenssteuerbereich dringend etwas tun, wir haben ein Steuersystem aus dem vergangenen Jahrhundert. Der Spitzensteuersatz muss später einsetzen, wir brauchen höhere Freibeträge. Wir würden den alten Spitzensteuersatz von Helmut Kohl von 53 Prozent wieder einsetzen. Ganz dringend müssen wir die Steuerflucht bekämpfen, da gehen dem Fiskus geschätzte 50 Milliarden jährlich verloren. Es kann nicht sein, dass die Besteuerung von Gesellschaften und natürlichen Personen so weit auseinanderklafft. Nicht zuletzt würden wir eine Reform der Erbschaftssteuer anstreben, die den Namen verdient. Die jetzige wird vom Verfassungsgericht kassiert werden, davon bin ich überzeugt.

Ihre Pläne in Sachen Rente?

Es ist leider so, dass in der Großen Koalition jede Partei ein Geschenk bekommen hat. Die eine hat die abschlagsfreie Rente ab 63 bekommen, die andere die Mütterrente. Wir müssen die gesetzliche Rente so gestalten, dass sie den Lebensstandard sichert und Altersarmut verhindert. Ein Blick nach Österreich lohnt sich, wo alle, also auch Beamte, Abgeordnete oder Selbstständige, in einen Rententopf einzahlen. Die Beitragsbemessungsgrenze muss mittelfristig gekippt werden, Ansprüche an der Spitze abflachen, dann ist das dauerhaft finanzierbar. Der alte Satz von Norbert Blüm, die Rente ist sicher, muss wieder - oder endlich - gelten.

Mallorca gilt als sichere Insel, nach dem Terroranschlag in Katalonien hat man vermehrt Betonsperren in den Straßen aufgestellt. Was für ein Mittel bietet die Linke gegen Terror?

Terror bekämpft man nicht mit Pollern oder gar mit Krieg. Man muss dem Terror die Grundlagen entziehen, Fluchtursachen bekämpfen statt Waffen exportieren und Mauern errichten. Wir müssen den Wahnsinnigen des IS die Grundlage entziehen und dürfen keine Feudalstaaten wie Saudi-Arabien hochrüsten.

Was halten Sie von Auffanglagern für Flüchtlinge in Afrika?

Eine inhumane Scheinlösung. Wir sollten aber wenigstens dafür sorgen, dass in den Lagern, die es jetzt gibt, eine vernünftige Versorgung gewährleistet ist. Im Moment verhungert alle zehn Sekunden ein Kind auf der Welt. Da sollten wir unsere Aufmerksamkeit hinlenken.

Wie stehen Sie zu einem Beitritt der Türkei zur EU?

Jetzt gibt es dafür keine Grundlage. Es hätten längst alle Waffenexporte gestoppt werden müssen. Alle deutschen Soldaten, egal aus welchem Mandat, hätten abgezogen werden müssen und die Beitrittshilfen, die die EU zahlt, hätte man stoppen sollen. Im Wahlkampf wird das Thema nun von der Bundesregierung eskaliert, das finde ich nicht so schlau. Dem Despoten Erdogan müssen wir in den Arm fallen und zugleich die türkische Zivilgesellschaft

stärken.

Ihnen wird immer wieder vorgehalten, sich mit Ihren Ansichten zur Nato - Sie wollen das Bündnis auflösen - oder dem konsequenten Nein zu Auslands­einsätzen der Bundeswehr als Koalitionspartner auf Bundesebene unmöglich zu machen. Wollen Sie lieber in die Opposition?

Das ist ein unsinniger Vorwurf, der von den politischen Konkurrenten gerne gemacht wird. Wir sagen ganz klar, wir wollen einen Politikwechsel und sind demzufolge selbstverständlich auch bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Die Nato wollen wir umwandeln in ein System kollektiver Sicherheit, die Nato ist ein Relikt aus dem kalten Krieg. Wir machen ein Angebot an die Wähler, wenn die uns stark genug machen, wird es sicherlich auch ein Angebot der SPD geben.

Bei diesem neuen System der kollektiven Sicherheit wollen Sie auch Russland stärker einbinden...

.... Ja!

Wie soll das aussehen?

Man kann sich da Bismarck und anderen anschließen, die gesagt haben, ein stabiles Europa gibt es nur, wenn es stabile Beziehungen zwischen Deutschland und Russland gibt. Man muss Putin kritisieren, wegen der Annexion der Krim oder wegen seines Agierens gegen Homosexuelle, Oppositionelle und, und, und ? Aber die Sanktionen sind

sinnlos. Sie haben sich nicht bewährt, sie schaden in besonderer Weise der ostdeutschen Wirtschaft. Wir brauchen einen Neuansatz für Auseinandersetzung und Dialog. Es hilft uns nicht, hochzurüsten und Konfrontationen voranzutreiben.

Wenn man nach der Annexion der Krim keine Sanktionen gegen Russland ausspricht, wie soll man dem dann begegnen?

Was sollen die Sanktionen denn bringen? Glauben Sie ernsthaft, dass sich ein Land, in dem im Zweiten Weltkrieg Millionen Menschen verhungert und verdurstet sind, mit lächerlichen Sanktionen in die Knie zwingen lässt? Im Gegenteil. Damit stärkt man de facto Putin, weil sich die Leute hinter ihm versammeln. Ich fordere übrigens auch keine Sanktionen gegenüber der Türkei. Sanktionen sind immer von wirtschaftlichen Interessen geprägt.

Seit 2015 teilen Sie sich in einer Doppelspitze zusammen mit Sahra Wagenknecht die Fraktionsführung auf. Wie teilen Sie sich Ihre Aufgaben auf?

Formal haben wir das nicht geregelt. Es gibt eine Vertrauensbasis, die funktioniert.

Die Linke ist einer der wenigen, wenn nicht sogar die einzige Partei, deren Wahlprogramm man in 13 verschiedenen Sprachen aus dem Internet herunterladen kann. Was versprechen Sie sich davon?

In Deutschland gibt es viele wahlberechtigte Menschen, die Deutsch nicht als Erstsprache haben. Mallorquininisch haben wir nicht dabei, aber Spanisch schon. ¡Gracias!