Wahrscheinlich ist es logisch, dass man als Chronist und Historiker der Tradi­tion verbunden ist. Bartomeu ­Bestard, der Stadtchronist von Palma, ist der Sohn von Bartomeu Bestard, besser bekannt als ehemaliger US-Konsul Tummy Bestard. Und auch der Sohn des Chronisten heißt so wie der Vater und Großvater. Bartomeu Bestard (Palma, 1970) ist seit 2002 bei der Stadt angestellt und dort unter anderem für Denkmalschutz und historische Publikationen zuständig. Außerdem verantwortet er den Fundus der Stadt, zu dem unter anderem Kunstwerke gehören. Nebenbei schreibt er seit Jahren wöchentlich für die MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca" über die Geschichte der Stadt.

Herr Bestard, wie wird man Stadtchronist?

Heutzutage ganz normal über die Beamtenprüfung, den sogenannten oposiciones. Es handelt sich hierbei übrigens um einen der ältesten Jobs, die in der öffentlichen Verwaltung vergeben werden. Das Rathaus Palma geht aufs 18. Jahrhundert zurück. Davor gab es eine Verwaltung für die ganze Insel, die man universitat nannte und die nach der

Eroberung durch Jaume I. im Jahr 1229 eingerichtet wurde. Schon damals gab es das Amt des Chronisten, allerdings hatte er neben der Geschichtsschreibung auch noch andere Aufgaben. Da der Chronist etwa mit Heraldik vertraut war, beauftragte man ihn, bei Schlachten die Akteure zu identifizieren. Zudem wirkten die Chronisten als eine Art Botschafter. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es mit Benet Pons i Fàbregues den ersten Stadtchronisten im heutigen Sinne.

Welche ist Ihre Lieblingsepoche aus der Geschichte Palmas?

Schon als Kind hatte ich eine Schwäche für das Mittelalter. Für Palma war das eine wichtige Epoche. Die Stadt war damals im europäischen Kontext ein zentraler Ort. Alle wichtigen Gebäude der Stadt, die Kathedrale, das Castell Bellver, die Llonja, die meisten Stadtpaläste, stammen aus dieser Zeit.

Warum konnte die Stadt diesen Status nicht halten?

Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen geriet die spanische Monarchie in die Krise. Zum anderen beeinflussten die Türkenkriege im 16. Jahrhundert die Handelsrouten der Mallorquiner im Mittelmeer. Das führte dazu, dass sich die auf den Handel spezialisierte, frühkapitalistische Gesellschaft mehr auf die Landwirtschaft konzentrierte. Es begann die Blütezeit der großen Landsitze. Das dauerte dann bis ins 19. Jahrhundert an.

Wo sehen Sie Palma heutzutage im europäischen Kontext?

Heute ist es ein zentraler Ort zum Wohnen für Menschen aus ganz Europa, besonders in der Altstadt. Der gemeinsame Nenner ist, dass sie viel Geld haben. Man braucht nur morgens die Leute beobachten, die in der Altstadt ihre Hunde spazieren führen, um das zu erkennen. Palma ist ein guter Ort zum Leben. Und jeder in Europa weiß das. Palma steht heute für Tourismus und Wohnen.

Dennoch hat man das Gefühl, dass sich die Stadt, wie auch die Insel an sich, im spanischen Kontext eher in der Peripherie befindet.

In politischer Hinsicht stimme ich Ihnen zu. Aber da muss man auch sagen: Wir leben in einer Demokratie. Die Politiker hier können entscheiden, wie sehr sie sich wo einmischen. Was jedoch die Wirtschaft angeht, ist Palma alles andere als peripher.

Auf der Insel hingegen ist Palma überall präsent. Selbst im letzten Winkel gibt es ein Straßenschild in Richtung Palma ?

... und in jedem Dorf gibt es eine Straße, die „Ciutat" heißt, also Stadt. Oder „Mallorca". Denn lange Zeit war es so, dass Mallorca Synonym für die Stadt war, obwohl diese seit ihrer Gründung Palma heißt. Man sagte etwa: „Ich fahre von Sineu nach Mallorca." Auf den alten Karten der Insel aus dem 18. Jahrhundert, wie sie jetzt im neu eröffneten Casal Balaguer gezeigt werden, steht da, wo Palma ist, Mallorca. Das Kuriose ist: Heute ist es tatsächlich so, dass die ganze Insel eine ­Großregion Palma ist. Das ist aber erst seit dem 20. Jahrhundert so.

Was bedeutet diese Zentralisierung für die Insel?

Das hat schon im 15. Jahrhundert zum Aufstand geführt. In der sogenannten revolta forana wehrten sich die Menschen auf dem Land gegen die von der Stadt auferlegte erhöhte Steuerlast. Als die Händler im 16. Jahrhundert verstärkt auf Landwirtschaft setzten, stieg das Missverhältnis weiter an. Dadurch entstand eine Oligarchie, die sich im Laufe der Zeit zum mallorquinischen Adel entwickelte. Erst der Aufstieg des Kapitalismus im 19. Jahrhundert konnte diese Strukturen wieder aufbrechen.

Sie sind seit 2002 Stadtchronist und haben diverse Machtwechsel erlebt. Gibt es bei den Parteien Unterschiede in der Wertschätzung der Geschichte?

Nein. Im persönlichen Gespräch hat der eine oder andere mal mehr Interesse für die Geschichte. Aber objektiv sind nur die Etats. Und hier kann man nur festhalten, dass die Politik sich generell kaum für Geschichte oder Denkmalschutz interessiert. Wir werden komplett vernachlässigt. Das ist sehr schade, man braucht da nicht um den heißen Brei herumzureden.

Ist ein Politiker, der viel über Geschichte weiß, ein besserer Politiker?

Ohne Zweifel. Das merkt man sofort auf menschlicher Ebene. Und für die Arbeit ist es einfacher. Wir haben etwa im Rathaus ein Gemälde von Van Dyck, das den Stadtpatron Sant Sebastià zeigt. Das könnte genauso gut im Prado in Madrid hängen. Wenn wir das restaurieren müssen und dafür Geld brauchen, ist es schon von Vorteil, wenn der zuständige Politiker zumindest weiß, wer Van Dyck war. (flämischer Maler des 17. Jahrhunderts, Anm. d. Red.).

Wie kam es dazu, das Sant Sebastià, dessen Gedenktag am 20.1. war, zum Stadt­patron wurde?

Der Heilige Sebastian ist in Palma seit der Zeit der Reconquista im 13. Jahrhundert beliebt. Anfang des 16. Jahrhunderts richtete die Pest auf Mallorca großen Schaden an. Im August 1523 hörte sie plötzlich auf. Laut der Legende gelangten zu dieser Zeit Ordensritter aus Rhodos auf die Insel. Im Gepäck hatten sie eine Reliquie des Heiligen Sebastian, dem Schutzpatron gegen die Pest: ein Knochen von seinem Arm. Als sie wieder wegfahren wollten, zog ein Gewitter auf. Es wütete tagelang, bis man endlich feststellte, dass die Reliquie nicht die Insel verlassen wollte. Seither wird sie in der Kathedrale aufbewahrt. Die Geschichte hat die Popularität des Heiligen Sebastian sehr befördert.

Und warum grillen wir jetzt Würstchen und gehen auf Konzerte?

Das stammt aus der Zeit nach der Diktatur. Die Idee mit dem Feuer und dem Grillen stammt von Bartomeu Ensenyat, einem Folkloristen. Die Konzerte wurden von Ramon Aguiló, dem ersten Bürgermeister in der Demokratie, vorangetrieben. Beide Ideen waren ein Riesenerfolg, wie man heute sieht. Dass bei Sant Sebastià auch Teufel auftreten, liegt übrigens allein an der terminlichen Nähe zu Sant Antoni, einem Fest, das in den vergangenen Jahren in den Dörfern unheimlich angezogen hat.

Wie wurde Sant Sebastià früher gefeiert?

Es gab die heilige Messe und bisweilen anschließend Gesellschaftstanz. Aber der fand im privaten Rahmen statt, nicht auf der Plaça Major wie heute. Man darf nicht vergessen: Sant Sebastià ist bei Weitem nicht das wichtigste Fest Palmas. Das ist das Standartenfest Ende Dezember, das seit fast 800 Jahren stattfindet. Auch wenn da weniger Leute hingehen.

Welchen Aspekt der Stadt­geschichte würden Sie noch gern erforschen?

Da gibt es einige. Etwa die Heraldik im Mittelalter. Aber ich glaube, es ist dringender, dass wir uns mit der Architekturgeschichte ausei­nandersetzen.

Warum dringender?

Weil der Denkmalschutz meiner Meinung nach suboptimal läuft. Wir befinden uns in einer Phase, in der sehr viel Geld im Umlauf ist. Es werden so viele Investitionen getätigt, dass es unmöglich ist, den Denkmalschutz bei allen Projekten zu berücksichtigen. Egal, ob es sich um ein Hotel handelt oder etwas anderes. Dabei leben wir doch vom Tourismus, und wollen die Touristen nicht in eine Stadt mit Charakter kommen? Eine Stadt, die ihre Architektur pflegt? Und wollen das die Bürger dieser Stadt, die hier leben, nicht auch? Ich bin ja gar nicht dagegen, dass man irgend etwas Neues baut oder etwas renoviert. Aber ein paar Gedanken könnte man sich schon machen.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich nenne mal einen Fall, wo die Stadt falsch gehandelt hat, um nicht eine Privatperson schlecht dastehen zu lassen. Im Teatre Xesc Forteza wurde bei einer Renovierung ein Proberaum aufs Dach gebaut, der aus dem Calatrava-Viertel heraussticht. Natürlich ist so ein Raum sinnvoll, aber es muss sich auch ins Stadtbild einpassen. Ein anderes Beispiel wären die Swimmingpools.

Jeder will heutzutage einen auf dem Dach haben.

Genau. Aber Palma ist eine Stadt der Dachziegel. Klar ist ein Pool auf dem Dach erst einmal keine große Sache. Aber wenn viele das machen, wird sich das Stadtbild zumindest aus der Vogelperspektive

in wenigen Jahren komplett geändert haben.

Haben Sie da keinen Einfluss?

Natürlich, ich bin sogar an verschiedenen Ausschüssen, auch vom Inselrat, zum Denkmalschutz beteiligt. Aber wir haben keine übernatürlichen Kräfte. Es gibt zu wenig Menschen, um die ganzen Bauprojekte, die zurzeit eingereicht werden, auf Denkmalschutz zu prüfen. Wenn ein altes mallorquinisches Haus zum Hotel umgebaut wird, dann ist das ein heftiger Eingriff. Es wäre großartig, wenn man auf die Baustelle gehen könnte, um etwa die Bögen und andere bauliche Elemente zu untersuchen. Aber dafür ist kaum Zeit, und der Investor hat es auch immer eilig.

Renovierungen schützen aber auch vor dem Verfall.

Natürlich. Es ist ja auch richtig, dass sie gemacht werden. Und, wenn ich das einschieben darf, ich habe das Gefühl, dass die Ausländer häufig besser mit unserer Architektur umgehen als die Mallorquiner. Ich glaube, wir müssen vor allem zusehen, dass die Stadt ihren Charakter nicht verliert. Schauen Sie, in dieser Stadt hat es 800 Jahre keinen richtigen Krieg gegeben. Aber jetzt besteht die Gefahr, dass das, was woanders mit Bomben hier von unkontrollierten Investitionen angerichtet wird. Noch ist es nicht zu spät. Aber ich bin

pessimistisch.