Seit Wochen werden wir mit neuen Sport­ideen, Kochrezepten, Buchvorschlägen, virtuellen Konzerten und Youtube-Videos förmlich erschlagen - und alles mit einem Ziel: das ­„Eingesperrtsein" so gut es geht erträglich zu gestalten. Was aber, wenn wir die Wochen zu Hause für etwas ganz anderes nutzen, etwas von dem wir schon immer gehört haben, es aber nie so richtig für uns selbst in Betracht ­gezogen haben: Meditieren? Nazareth ­Castellanos ist studierte Physikerin, hat einen Doktor in Medizin, gibt Kurse in Neurowissenschaften und erforscht seit fünf Jahren, was mit unserem Körper und unserem Gehirn passiert, wenn wir meditieren.

Warum sollten wir uns für Meditation und gegen eine spannende Netflix-Serie entscheiden, wenn wir die Wahl haben?

Beim Fernsehschauen üben wir eine passive Tätigkeit aus, während wir beim Meditieren unser Bewusstsein trainieren. Durch dieses Training lernen wir, uns selbst zu beobachten. Das ist eine Praxis, die vollkommen in Vergessenheit geraten ist. Permanent gilt unsere ­Aufmerksamkeit dem Smartphone, dem Fernsehprogramm oder den Nachrichten. Das heißt, wir werden mit äußeren Informationen überschüttet - und sind es überhaupt nicht mehr gewohnt, mit Informationen umzugehen, die aus unserem Inneren kommen. Dabei hängt alles in unserem Leben mit dieser inneren Information zusammen. Solange wir nicht imstande sind, uns selbst zu beobachten, laufen wir wie Blinde oder Einäugige durch die Welt. Der andere große Vorteil der Meditation gegenüber einer Fernsehserie ist der Zeit­aufwand. 15 Minuten reichen schon für eine ­Meditations-Einheit aus - vor dem Bildschirm verweilen wir jedoch oft stundenlang. Ein weiterer Nachteil beim Seriengucken ist, dass wir Verhaltensweisen der Schauspieler erlernen, die wir später unbewusst auf unser eigenes ­Leben übertragen.

Und warum ist es so wichtig, uns mit unserer inneren Welt auseinanderzusetzen?

Es ist wichtig, weil wir alles, was uns im Leben widerfährt, mithilfe unseres Gehirns inter­pretieren. Und diese Interpretation erfolgt bei ­jedem von uns anders, es ist eine vollkommen subjektive Interpretation. Das bedeutet, dass wenn wir uns selbst nicht kennen, wir auch nicht verstehen können, wie wir die Welt wahrnehmen.

Wie kann uns Meditation konkret helfen, mit den Auswirkungen, die die wochen­lange Ausgangssperre auf unser Gemüt ­ausübt, besser umzugehen?

Die Ausgangssperre stellt eine fantastische Gelegenheit dar, um uns jetzt mit uns selbst auseinanderzusetzen und uns besser kennenzulernen. Die gegenwärtige Krise bringt viel Angst und Sorge mit sich - Sorgen um unsere Gesundheit, unsere finanzielle und berufliche Zukunft. Durch Meditation können wir lernen, unsere Reaktion auf Emotionen besser zu steuern. Dadurch wird automatisch Stress ­abgebaut. Außerdem haben wir Angst und erfahren Unwohlsein, weil wir uns mit den Gedanken entweder in der Vergangenheit oder der Zukunft befinden, aber wenn wir uns bei der Meditation auf das Hier und Jetzt konzentrieren, verflüchtigt sich dieser Angstzustand ganz von selbst.

Warum ist es für uns einfach, über körperliche Schmerzen wie Migräne, Bauchweh oder Muskelkater zu sprechen, aber so schwer, emotionale Schmerzen beim Namen zu nennen?

Weil wir uns von unserem Körper entfernt haben. Wenn wir über körperliche Schmerzen reden, erscheint es uns, als redeten wir nicht über uns, sondern über jemand ganz anderen. Emotionen sehen wir jedoch als Teil von uns, wir identifizieren unser Selbst mit ihnen, und schämen uns oft für diese Empfindungen. ­Daher ist es wichtig, dass wir erkennen, dass ­unsere emotionalen Befindlichkeiten, genau wie unsere körperlichen Wahrnehmungen, ebenfalls auf neurologischen Faktoren ­basieren. Wenn wir verinnerlichen, dass Körper und Verstand zwei Seiten der gleichen ­Medaille darstellen, schaffen wir es, Distanz zu unseren psychischen Beschwerden zu finden. ­Somit identifizieren wir uns nicht mehr mit unseren Emotionen und können ohne Scham über sie sprechen.

Viele Menschen beginnen mit Meditation, weil sie mehr Glück erfahren möchten. Warum sind wir so unglücklich?

Eine Sache, die zu großem Unglücklichsein führt, ist ein Verstand, der ununterbrochen auf Hochtouren läuft. Wenn unser Gehirn permanent von einer Idee zur nächsten springt, wir ohne Pause in Gedanken zu uns selbst sprechen, wir andauernd in Vorstellungen schweben, wird es uns kaum möglich sein, Glück zu empfinden. Daher besteht der erste Schritt ­darin, die Hyperaktivität unseres Gehirns zu verringern und unserem Verstand mehr Ruhe zu gönnen. Aber beim Thema Glück dürfen wir auch nicht unser körperliches Wohlbefinden außer Acht lassen - und dies können wir pflegen, indem wir gesund essen und uns aus­reichend bewegen. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass unsere Ernährung einen hohen Einfluss auf unseren Gemütszustand hat - das sogenannte Glückshormon Serotonin wird zu 95 Prozent im Darm hergestellt.

Wie hilfreich können Online-Kurse oder ­Meditations-Apps sein?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Für mich hängt dies besonders mit dem einzelnen Lehrer zusammen. Irgendein Diplom zu ­haben, das dich als Meditations-Experten ausweist, ist heutzutage relativ einfach, aber es bedeutet ja nicht automatisch, dass du ein guter Lehrer bist. Ich selbst habe sehr viele verschiedene Meditations-Lehrer ausprobiert - bei manchen war ich nur kurz, bei anderen jahrelang. Jeder muss für sich selbst herausfinden, welcher Lehrer zu einem passt, und das kann durchaus über ein Online-Portal geschehen.

Was raten Sie einem Meditations-Neuling, dessen Gehirn auf Hochtouren läuft und dem es schwerfällt zur Ruhe zu kommen?

Hierfür gibt es zwei Tricks. Beim ersten geht es darum, unsere Atmung zu verlangsamen, bis wir auf sechs Atmungen pro Minute kommen. Mit dieser Technik begibt sich unser Gehirn in einen Zustand, in dem die Aufmerksamkeit und das Erinnerungsvermögen gesteigert sind, und somit kommt der Wirrwarr der Emotionen zu Ruhe. Und der zweite Trick besteht darin, sein körperliches Befinden zu beobachten, indem wir zum Beispiel unseren Herzschlag zählen. Mit dieser Technik wird die ­Konzentration auf den Körper gerichtet und entfernt sich daher automatisch von den mentalen Verstrickungen.

Wie lange und wie oft sollte ein Anfänger versuchen zu meditieren?

15 bis 30 Minuten am Tag reichen aus, um nach circa acht Wochen erste positive Veränderungen in unserem Gehirn wahrzunehmen.