Altmodischer Hut auf dem Kopf, Umhängetasche über der Schulter, verschmitztes Lächeln auf den Lippen. So streift Jaume Sansó Llull fast jeden Tag durch Colònia de Sant Pere im Nordosten von Mallorca. An guten Tagen schafft es der 83-Jährige ohne Gehstock. Dabei wird er immer wieder aufgehalten. Hier ein Schwätzchen, dort ein Gruß. „Ich kenne nicht alle, aber sie kennen mich", sagt Sansó. Man merkt, dass der Küstenort seine Heimat ist. Trotzdem wirkt er ein bisschen einsam. Doch, er habe hier Freunde, „aber es gibt auch ein paar Leute, mit denen ich nie übereinkommen werde. Ich habe immer getan, was ich will. Meist ging es gut."

Er sei ein zurückhaltender Mensch, hatte der Rentner vor dem Interview am Telefon gewarnt. Wenn man ihn persönlich trifft, kann man das zunächst kaum glauben. Sansó redet wie ein Wasserfall, die Anekdoten scheinen ihm nie auszugehen, und meist kreisen sie um ihn selbst. So habe er im Jahr 1976 den riesigen gestrandeten Wal an der Küste entdeckt, der für einigen Medienrummel sorgte. Und durch seine Initiative sei in den 70ern der kleine Strand angelegt worden, der heute noch Urlauber anzieht. Auch das einzige Auto im Dorf, das es damals bis nach Palma schaffte, war seines - bei seinen vielen unentgeltlichen Taxidiensten habe er einmal sogar die Prinzessin von Monaco vom Hafen bis nach Cala Ratjada chauffiert. Wer mithalten möchte, tut gut daran, Zwischenfragen zu stellen. Sonst verzettelt man sich schnell in den turbulenten Ereignissen, die Sansós Leben prägen.Letzter, Erster, Einziger

Dagegen ist sein Buch,von dem der 83-Jährige immer ein paar Exemplare mit sich herumträgt, sowohl grafisch als auch inhaltlich erfrischend klar strukturiert. „Meine drei Töchter haben mir dabei geholfen, eine von ihnen ist Illustratorin", sagt Sansó und legt sein Erstlingswerk mit Bedacht auf einen der Außentische des Restaurants des Club Náutico. Der Kellner kommt, fragt nur der Form halber, was Sansó trinken möchte. „Hierbas natürlich", sagt der Rentner. „Ich zahle später." Immerhin sei er der letzte noch lebende Gründer des Club Náutico, fügt er an die Reporterin gewandt hinzu. Der Letzte, der Erste, der Einzige - ständig tauchen diese Superlative in Sansós Erzählungen auf.

„Colonia Virus 2020" ist auf dem Buch­cover zu lesen. Darunter eine Luftaufnahme des Orts aus dem Jahr 1965. „Die erste Postkarte von Colònia de Sant Pere", sagt Sansó. Und natürlich erinnere er sich daran, wie er einst mit dem Fotografen sprach. Sansó kramt wieder in seiner Tasche und holt das Manuskript hervor - mehr als 60 Seiten im Collage-Block, handgeschrieben. „Was soll ich mit einem Computer?" Wer im Buch blättert, entdeckt die selben Anekdoten, aber auch zahlreiche historische Fotos, die das Colònia de Sant Pere des vergangenen Jahrhunderts wieder aufleben lassen.

Schon nach wenigen Minuten mit Sansó wird klar: Er ist genauso charmant wie eigensinnig. Vielleicht ist es eben diese Mischung, die Sansó - „ich bin übrigens der Enkel des ersten Menschen, der in Colònia de Sant Pere im Geburtenregister eingetragen ist" - im Leben weitergebracht hat. Er war sechs Jahre alt, als die kurze Schulbildung, die ihm die Nonnen im Ort vermittelten, mit der Erstkommunion endete. Seine Eltern schickten ihn aufs Feld, um erst Ziegen zu hüten und dann bei der Olivenernte zu helfen. Das war in den 40erJahren, als in Colònia de Sant Pere nur eine Handvoll Familien lebte und die Nachwirkungen des Bürgerkriegs in Form von Hunger und Armut noch allgegenwärtig waren. „Das war damals unser Virus." Mit elf Jahren stellte er sich quer. „Die drückende Sonne, die harte körperliche Arbeit - Landwirtschaft", erklärt Sansó trocken.

Mit einem Fahrrad fuhr Sansó fortan täglich über die damals unbefestigte Straße ins 13 Kilometer entfernte Artà. „Ich durfte bei einem Friseur eine Lehre machen. Das heißt: Sie ließen mich nicht schneiden, aber zugucken", so Sansó. Mit 13 fragte ihn der Wirt einer Bar in Colònia de Sant Pere, ob er nicht Lust habe, seinen Gästen die Haare zu schneiden. „Früher waren Kneipen und Friseursalons oft zusammengelegt." Natürlich willigte Sansó ein, und natürlich wurde es ein Erfolg.

„Ein Jahr später, mit 14, eröffnete ich meine eigene Kneipe mit Frisierstube, in einem Haus, das meinem Vater gehörte. Jedes Jahr musste ich mehr Wände einreißen, so viele Gäste hatte ich." Eigentlich sei sein Ziel gewesen, einen Salon in Palma zu eröffnen. Bei den drei, vier Besuchen in der Balearen-Hauptstadt, die der junge Sansó damals hinter sich hatte, war ihm Palma immer wie die große, aufregende Welt vorgekommen. Doch als er mit 17 zum Militärdienst dort stationiert wurde, änderte sich sein Bild. „Da sind mir zu viele Leute, und man kann niemandem trauen."

Nach einem kurzen Intermezzo in Nordfrankreich zog es den jungen Mann daher schnell wieder nach Colònia de Sant Pere, wo er begann, das erste Hotel, das Rocamar, zu bauen. „Das war 1963, ich war Architekt und Bauplaner zugleich. Als die Arbeiter anrückten, stand das Erdgeschoss schon." Strom und Telefonleitungen hatten es zu diesem Zeitpunkt noch nicht bis in die Siedlung geschafft. Er arbeitete also mit einem Stromaggregat, um den ersten Touristen - Franzosen - angemessenen Komfort zu bieten. „Ich habe nie verstanden, warum sich die Leute und das Rathaus darüber aufregen, dass Urlauber kommen oder Menschen hier Ferienhäuser bauen. Natürlich verändert sich dadurch das Flair des Ortes, aber sie bringen doch Geld."

Sansó heiratete, bekam drei Töchter und übernahm im Hotel alles, was anfiel. „Klar hatte ich auch mal Personal, aber die sind meist nicht länger als ein paar Wochen geblieben. Sie haben mir nicht zugesagt", erzählt der Rentner. Und räumt auf Nachfrage ein: „Es war wohl auch nicht immer einfach mit mir." So schuftete der Mallorquiner Tag und Nacht, fuhr mit seinem Fischerboot - der einzigen großen llaüt im Hafen - regelmäßig aufs Meer, um frischen Fang servieren zu können, und schlief oft nur drei Stunden pro Nacht.

Sturm und Flaute

Mit den Jahren verdrängten deutsche Urlauber die Franzosen, das Dorf wuchs. Als Sansó 50 wurde, gab er das Hotel ab und zog sich von der Arbeit zurück. Seine Frau und seine Töchter seien es leid gewesen, sagt er. Danach arbeitete er erst in einem Verwaltungsbüro, dann in einer Kneipe, mit 60 ging er in den Ruhestand. Seitdem sind die Streifzüge durch den Ort der Höhepunkt seines Tages. „Mit meiner Frau hat es nicht gehalten, und meine Töchter leben schon lange nicht mehr auf Mallorca. Mit ihnen habe ich aber immer noch regen Kontakt", sagt Sansó und wirkt plötzlich ein wenig erschöpft.

„Das Leben besteht aus einer Aneinanderreihung von Sturm und Flaute, wie im Meer. Das Coronavirus war das bisher größte Unwetter in meinem Leben", ist auf der letzten Seite seines Buches zu lesen. Nicht, dass Sansó erkrankt wäre - es war die Einsamkeit, die ihm während des Lockdowns im vergangenen Frühjahr zu schaffen machte. „Also schrieb ich das Buch, eingesperrt im eigenen Haus", erklärt Sansó. 60 Tage und 30 Flaschen Hierbas habe er dafür gebraucht, „ich bin eben doch nur ein Ziegenhirte ohne Schulbildung."

Sansó hält kurz inne, dann ist die Erschöpfung in seinem Blick auch schon wieder weg. „Ich könnte noch erzählen, wie ich im Laufe der Jahre mehreren Leuten das Leben gerettet habe, falls es Sie interessiert", meint er. „Oder auch wie ich die erste Dorfparty mit Licht­effekten organisierte."