Nach acht Monaten auf Mallorca fahren wir zurück in ein von Corona aufgewühltes Land im Wahlkampf. Bei der Abreise im September vergangenen Jahres erschien die Öffnung der Fußballstadien von oberster Priorität in der Pandemie. Bei der Ankunft Anfang Juni geht es um die Europameisterschaft in München: Wie viele Fans dürfen ins Stadion? Die Gastronomie draußen ist geöffnet wie damals. Kritische Geister diskutieren den Sinn des Masketragens draußen – wie damals. War da irgendetwas in der Zwischenzeit?

Im Zeitstrahl scheint ein Stück zu fehlen, wie ausgeknipst. Warum haben wir vier Mal unsere Abreise verschoben? Eine Fähre nach der anderen abfahren lassen? Was für eine Wirklichkeit ist das nun nach 90.000 „an oder mit Corona verstorbenen“ Deutschen? In Annecy im Café freut sich ein Franzose, dass er endlich wieder Deutsche trifft und bekräftigt, Corona sei doch nur erfunden – nach 110.000 Toten in Frankreich. Bei der Durchreise in Straßburg erzählt uns eine Freundin, sie lasse sich nicht impfen, weil ihr Körper robust genug sei gegen Corona. Was ist wirklich? Wo fängt gaga an? In welcher Wahrnehmungswelt leben wir nach diesem Winter auf Mallorca? George Sand kommt nach ihrem Winter 1839 zu dem Schluss, dass wir es ohne Zivilisation und gleich gesinnte Menschen nicht aushalten, dass wir nicht gemacht seien für die Einsamkeit. Dagegen hält Wilhelm Busch: „Wer einsam ist, der hat es gut, weil niemand da, der ihm was tut.“ Beides stimmt in Corona-Zeiten.

In der „taz“ wird der Philosoph Peter Sloterdijk gefragt, warum zunehmend Menschen aus der Wirklichkeit austreten. Er kommt auf seine eigene 1970er-Erfahrung zurück, als das „marxistisch codierte Rechthabegefühl gegenüber dem Lauf der Welt am Verblassen war und die Bereitschaft für alternative Wahrheiten“ um sich griff. Damals verbrachte er Zeit in einem Ashram in Poona auf Suche nach Erleuchtung und in der Überzeugung, dass die Wahrheit im Gefühlsausbruch liege und zur Authentizität eine gewisse Heftigkeit gehöre. Gefragt zu Querdenkern und Corona-Leugnern, zitiert er Massenwahn-Theorien der 1930er-Jahre: „Moderne Gesellschaften (sind) großformatige Ensembles in prä-panischer Erregung, die unter dem Eindruck von Krisenstress mehr oder weniger plötzlich in akute Panikzustände versetzt werden können.“

Die Rückreise: Die Fähre von Alcúdia nach Toulon legta auf Menorca an. Emil Hädler

Von außen betrachtet war Deutschland über Monate in einem solchen panischen Erregungszustand – in schnäppernden Talkshows und medialen Attacken auf Virologen, bei Corona-Demos mit Alu-Hüten, in Nabelschau und Impfneid-Debatten und nicht zuletzt in der Aufregung über eine kleine Reisewelle zu Ostern nach Mallorca. Die fiel dort mitten im „SOS Turisme“ gar nicht weiter auf angesichts der vielen geschlossenen Hotels, rigoroser Überwachung der Strände und nächtlicher Ausgangssperre. Es fuhren eine Weile nur etwas mehr Mietautos über die Insel. Die Corona-Inzidenz war monatelang marginal im Vergleich zu Deutschland, das seinerseits besser durch den Winter kam als so manches Nachbarland. Die Spanier bemerkten damals verwundert den deutschen Lagerkoller, der sich über Mallorca entlud. Sloterdijk prophezeit, dass dies nur der Beginn eines Phänomens saturierter Gesellschaften sei, die immer mehr Menschen „aus der Angst in die Ekstase treibt, aus der Ratlosigkeit in die Mission“, und holt dann aus zum Klimawandel, zum Sturm auf das Capitol und ideologischem Chaos unserer Zeit.

Nein – diese acht Monate Mallorca waren kein Urlaub, und so hätten wir uns das gewiss auch nicht ausgedacht. Drei Wochen waren geplant – doch da kam im Herbst die zweite Corona-Welle dazwischen – und dann im Frühjahr die dritte. Es war vielmehr ein schleichendes Exil-Erlebnis mit der immer wieder neu erkämpften Entscheidung, nicht in einen deutschen Lockdown zu reisen – ganz nach der Empfehlung der Kanzlerin, Reisen in Risikogebiete zu unterlassen. Freunde daheim rieten uns ab zu kommen. Dabei war Mallorca nie unser Traumziel. Das miserable Malle-Image hielt uns fern, und tatsächlich ist der Ballermann ein Brandzeichen in der deutschen Medienwahrnehmung: Kaum steigt der Alkohol-Pegel an der Playa de Palma, nimmt Deutschland das wahr und regt sich auf.

Woher kommt diese irrlichternde Malle-Fixierung? Dieses Symbol für einen Tourismus, den keiner braucht? Dieses gebannte Starren auf eine unbedeutende, abgrundhässliche Strandmeile? Die Mallorquiner verstehen das ebenso wenig und nutzten die Pandemie, um das Phänomen abzustellen. Aber so autonom sind die Autonomen Regionen in Spanien eben doch nicht: Madrid hat das letzte Wort – und so feiern sie halt wieder an der Playa. Als vorübergehend afrikanische Flüchtlinge in den leeren Hotels untergebracht wurden, waren die Nachbarn eher zufrieden mit den neuen Gästen: „Die pinkeln wenigstens nicht nachts vom Balkon“, war als Kommentar in der Mallorca Zeitung zu lesen. Auf dieses „Malle“ würde Mallorca gern verzichten.

Zweifellos ist diese Insel eine alternative Wirklichkeit für viele, die es sich leisten können und wollen. Putzfraueninsel war gestern: Die Preise für protzige Immobilien bei den omnipräsenten Engel & Völkers haben Münchener Niveau. Werbeauslagen von Maklern pflastern die Fußgängerzonen von Andratx (Düsseldorfer Szene) oder Santanyí (Hamburger Szene). Ganz sicher wird da Geld gewaschen oder vorbei an der Steuer investiert. Mit den Baugenehmigungen ging es früher nicht immer sauber zu. Eine sozialistische Inselregierung lässt inzwischen das eine oder andere illegal gebaute Ferienhaus abreißen.

Es existiert eine Parallelgesellschaft der Ausgewanderten und der Teilzeit-Residenten, die in diesem touristenentleerten Corona-Winter auf den Wochenmärkten der Insel besonders auffielen. Viele leben hier seit Jahren und kommen mit radebrechendem Spanisch gut zurecht angesichts deutschem Inselradio, Mallorca Zeitung, Mallorca Magazin, Müller-Märkten und deutschen Ärztezentren in beinahe jedem Ort. Aldi und Lidl sind sowieso da. Solch ein Herdenverhalten im abgeschirmten Milieu werfen Menschen in Deutschland Türken der zweiten oder dritten Generation vor. Der Unterschied liegt im besser gefüllten Bankkonto.

Für Deutsche ist es eher ungewöhnlich, im eigenen Sprachbad Urlaub im Ausland zu machen. Für Franzosen ist das normal in den Ländern der Frankofonie. Die Franzosen trifft man im Norden der Insel, wo die Fähre aus Toulon ankommt – ganz zu schweigen von den Briten, die es nicht erwarten können, wieder reisen zu dürfen und Deutsche beneiden, die schon da sind.

Die Mallorquiner halten sich diese Szene so gut es geht vom Leib. Durchmischungen gibt es kaum, wie man uns immer wieder bestätigt. Sie sind freundlich zu den Ausländern, weil die eben doch Aufträge für die lokale Wirtschaft generieren. Viele Handwerker oder Hausmeister, die die Expat-Immobilien pflegen, gehören aber selbst zur eingewanderten Minderheit. Es gibt einen bürgerlich-mallorquinischen Mittelstand und sehr reiche einheimische Familien, die aus Grundstücksverkäufen an Ausländer ein Vermögen gemacht haben. Aber die bleiben unter sich. Trifft man sie beim Sonntagsausflug mit ihren Familien in den Restaurants der Tramuntana-Berge, dann erkennt man ein dezent-feines, selbstbewusstes Milieu, das Mallorquinisch spricht, nicht Spanisch. Wiederum in einer Parallelwelt lebt das Proletariat der Putz- , Hilfs- und Servicekräfte aus den Touristenhotels und Ferienresorts, zumeist zugewanderte Spanier vom Festland oder Latinos aus Südamerika, die unter Corona besonders zu leiden haben. Die sprechen kein Mallorquinisch und leben in den randständigen Siedlungen von Palma unter sich. Die Urban Sketchers Mallorca haben uns einmal in dieses Milieu geführt. Elendsberichte im deutschen Fernsehen betrafen zumeist diese Menschen, die als Hilfskräfte oft ohne Unterstützung durch die Regierung von den Tafeln leben, die an vielen Stellen entstanden sind. Dort engagierten sich auch deutsche Auswanderer mit Hilfsprogrammen.

Obdachlosen-Behausungen unter der Brücke am Friedhof von Palma. Emil Hädler

Gewiss ist diese Insel ein Ort der Sehnsucht durch ihre Überschaubarkeit. Man kann nirgendwohin weiter fahren als 90 Kilometer. Alles ist in der Nähe und die Metropole Palma de Mallorca nie weit: vorne das Meer und hinten das Weltkulturerbe des Tramuntana-Gebirges. So beschrieb Kurt Tucholsky die Sehnsüchte seiner Berliner Zeitgenossen: die Ostsee vorn, dazwischen die Friedrichstraße, hinten die Alpen. Morgens krähen Hähne, tagsüber blöken Lämmer, und an den felsigen Küsten kreischen Möwen. Auf der Mietfinca hat man seine Ruhe im Gartenland der Oliven- und Mandelbäume.

Man kann auf Mallorca der Wirklichkeit entfliehen und in einer aufgeräumten, vielfältigen Kulturlandschaft seinen Träumen nachhängen. So ein Austritt aus der Wirklichkeit mag auf Zeit als Illusion gelingen. In den turbulenten Corona-Monaten war er perfekt, aber was ist schon wirklich in diesen Zeiten?

Ebenso wie andere illustrierte Kolumnen von Prof. Dipl.-Ing. Emil Hädler ist „Willkommen in der Wirklichkeit“ im deutschen Werkbund erschienen. www.deutscher-werkbund.de