Die Vertretungslehrerin war offensichtlich so unbedarft wie unvorbereitet, als sie am Morgen des 27. September in eine achte Klasse einer öffentlichen Schule in Palma geschickt wurde. Statt Unterricht dürften sich die Kinder etwas auf Netflix aussuchen, sagte sie, und ließ die 13-Jährigen darüber abstimmen, was genau das sein könnte. 21 von 25 Schülern stimmten für „El juego del calamar“ (The Squid Game). Aber das sei doch erst ab 16, sagte die Lehrerin. Dann schaltete sie dennoch auf Start. Es folgten: ein Gemetzel sondergleichen auf dem Bildschirm, eine verstörte Schülerin, eine Elternbeschwerde bei der Studienleiterin, eine Entschuldigung der Schule.

„The Squid Game“, eine südkoreanische Produktion, war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal zehn Tage auf der Streamingplattform verfügbar, doch die Netflix-Kids auf der Insel waren schon ganz heiß darauf. Seither ist der Hype nur noch größer geworden: Am vergangenen Wochenende hatten bereits 132 Millionen Menschen weltweit mindestens zwei Minuten davon gesehen.

Es ist die erfolgreichste Netflix-Produktion aller Zeiten. Und die Sorgen, was sie in den Köpfen von Kindern und Jugendlichen anrichten könnte, werden größer. Die Handlung der nach einem koreanischen Kinderspiel genannten Serie: Eine Gruppe mysteriöser Agenten versucht Menschen, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken, zur Teilnahme an zunächst harmlos erscheinenden Kinderspielen zu ermuntern. Als Gewinn lockt ein Riesenbatzen Geld, der alle sozialen und familiären Probleme mit einem Mal lösen könnte. Was die Teilnehmer erst später herausfinden: Der Einsatz fürs Spiel ist ihr Leben. Wer verliert, wird ermordet. Aus Verzweiflung machen die meisten trotzdem mit. Und so beginnen die blutrünstigen Wettkämpfe, eingebettet in eine wie aus einem Comic daherkommende Spielplatzkulisse, in der die Gemetzel umso schockierender wirken.

„Wir haben den Eltern unserer Schule in Santa Ponça bereits eine E-Mail geschickt, um sie über die Gefahren für die Kinder zu informieren, die von dieser Serie ausgehen“, sagt Joana Maria Mas, Schulleiterin der CEIP Ses Rotes Velles und Sprecherin des Verbandes der Grundschuldirektoren auf Mallorca gegenüber der Zeitung „Última Hora“. Noch würden die gewalttätigen Spiele nicht nachgeahmt, aber die Gefahr bestehe. So sieht das auch Joan Ramon Xamena vom Verband der Sekundarschulleiter auf Mallorca. Bei dem Videospiel Fortnite sowie diversen Online-Challenges sei das bereits der Fall gewesen.

Das könnte Sie interessieren:

Dabei sind viele TV-Kritiker von „The Squid Game“ durchaus angetan. Sie sehen darin Kapitalismuskritik. Manch ein Zuschauer wird sich tatsächlich mit der Frage beschäftigen, wie unsere Gesellschaft vor lauter Elitewahn mit Abgehängten und Abgestiegenen umgeht. Zumindest wenn dieser Zuschauer reif genug ist, diesen Bogen zu schlagen. Wobei man das auch anders sehen kann, wie etwa die Serienkritikerin „La Crispeta“ in einem unter Eltern auf Mallorca zirkulierenden Youtube-Video anmerkt: „Oder sind wir Zuschauer vielleicht eigentlich Voyeure? Wird die sozialkritische Komponente nur als Ausrede dafür benutzt, das Grauen mitanzusehen?“

Es möge ja sein, dass die Serie ausgezeichnet ist, aber sie sei definitiv nichts für Zwölfjährige, befand dieser Tage Marta Rivera, Kultusministerin der Region Madrid. Oder um es mit den Worten des spanischen Gewerkschaftsführers Mario Gutiérrez zu sagen: „Das Problem ist nicht die Serie, sondern wer sie sieht.“