„Die Welt umarmen“, heißt das neue Buch von Jorge Dezcallar, „Abrazar el mundo“. Darin geht es um nichts weniger als die Suche nach weltweitem, auf Regeln basierendem Dialog, der ein friedliches Zusammenleben der Menschheit ermöglicht. Hintergrundwissen für die Analyse der globalen Probleme und Krisen hat Dezcallar (Palma, 1945) reichlich. Neben zwölf Jahren als Generaldirektor im spanischen Außenministerium war der Diplomat, der einer mallorquinischen Adelsfamilie entstammt, unter anderem Botschafter in Marokko, dem Vatikan, in Washington sowie auch Leiter des spanischen Geheimdienstes CNI. Im Telefoninterview mit der MZ analysiert Dezcallar die Tragweite des Kriegs in der Ukraine.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Russland sei für das Erreichen seiner strategischen Ziele bereit, im Gegensatz zum Westen auch Tote in Kauf zu nehmen. Hätten Sie diese Bereitschaft so hoch eingeschätzt, wie wir sie gerade im Krieg in der Ukraine erleben?

Eher nicht. Es war aber sicherlich auch eine Überraschung für Russland, auf so starken Widerstand in der Ukraine zu stoßen. Ich denke, diese „Militäroperation“, wie sie in Russland genannt wird, war operativ und logistisch schlecht geplant und basiert wohl auf falschen Informationen. Ich weiß nicht, ob der eigentlich gut funktionierende Geheimdienst sich geirrt hat oder man seinen Informationen keinen Glauben geschenkt hat.

Es fällt schwer, die Motive Putins einzuordnen. Sie verweisen unter anderem auf ein Gefühl der Bedrohung in Russland.

Ich denke, der Krieg ist Teil eines tiefgreifenden Wandels: dem Ende der Regeln, die seit 1945 in den internationalen Beziehungen gegolten haben und im Jahr 1991 angepasst wurden, nach dem Ende der Sowjetunion. Länder wie China oder Russland akzeptieren diese Regeln nicht, sie wollen eine andere Aufteilung der weltweiten Macht. Sie fragen, warum zum Beispiel Frankreich im Sicherheitsrat sitzt und nicht etwa Indien, das ebenfalls Atommacht ist. Die Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, müssen modernisiert werden. Russland fühlt sich bedroht von der Nato, die Waffen in der Nähe seiner Grenzen stationiert. Das widerspricht dem, was verbal zugesichert worden war, etwa durch den früheren US-Präsidenten Bill Clinton.

Auch wenn Russlands Angriffskrieg damit nicht zu rechtfertigen ist – beging der Westen in den vergangenen Jahren schwerwiegende strategische Fehler?

Die Ausweitung der Nato nach Osten hat Europa nicht sichererer gemacht und stattdessen die Nervosität Russlands verstärkt. Das Land wurde wie ein Besiegter behandelt. Besiegt war aber der Kommunismus. Russland ist Europa, wir haben kein Interesse, es in die Arme Chinas zu treiben. Aber um Russland in die europäische Sicherheitsarchitektur zu integrieren, muss es dieselben Regeln akzeptieren, die wir achten, und das ist nicht der Fall.

Aber hätte man denn den Wunsch der osteuropäischen Länder nach Integration ungehört lassen können, ihren Wunsch nach Beistand gegen Russland?

Diese Länder haben natürlich ein Recht, sich der Nato anzuschließen, weil sie sich bedroht fühlen. Ich habe drei Jahre in Polen gelebt und weiß, wie sich das anfühlt. Aber diese Integration hat Russland sehr nervös gemacht.

Was wir jetzt erleben, ist noch Strategie oder vor allem Improvisation Russlands?

Es gibt eine Strategie, aber sie wird angepasst angesichts der vorgefundenen Schwierigkeiten. Die sogenannte „Entnazifizierung“ hatte wohl einen Regimewechsel in der Ukraine zum Ziel, Putin sprach auch vom Ende der Souveränität des Landes. Das wird nicht zu erreichen sein, der ukrainische Präsident verkörpert den nationalen Widerstand. Jetzt ist von einer möglichen Verpflichtung die Rede, dass die Ukraine nicht der Nato beitritt, und entmilitarisiert wird oder dass Gebietsteile wie der Donbass abgetrennt werden, auch von einem Statut für die russische Sprache in der Ukraine.

Könnte Putin mit einem solchen Teilerfolg das Gesicht wahren?

Das Ausmaß der Nichtinformation in Russland ist so hoch, dass er alles Mögliche als Erfolg verkaufen könnte, etwa eine Unabhängigkeit des Donbass, wo ja angeblich die russisch sprechende Bevölkerung verfolgt wird.

Angesichts dieser Desinformation ist eine Revolte in Russland gegen Putin undenkbar?

Ich kann mir drei Szenarien vorstellen, einen Sieg Russlands, einen langen Krieg oder aber eine Verhandlungslösung. Voraussetzung für eine interne Revolte in Russland wäre ein langer Krieg, sodass die Sanktionen ihre Wirkung zeigen können.

Sie waren auch Botschafter in Washington. Wie beurteilen Sie die Strategie der USA?

Präsident Joe Biden kann sich auf eine breite Einigkeit bei den Alliierten stützen. Die Wiederbelebung der Nato ist für mich einer der positiven Aspekte dieser Krise. Auch die transatlantischen Beziehungen, die unter Trump massiv gelitten hatten, haben sich erholt. Zudem zeigt sich Europa einig wie nie. Es hat drei wichtige Entscheidungen getroffen: harte Sanktionen, militärische Hilfen aus dem EU-Haushalt und die Aufnahme von Geflüchteten.

Biden brachte in einer Rede auch die Ablösung Putins ins Spiel. Was denkt man bei solchen Worten als Diplomat?

Das würde ich als verbale Erleichterung bezeichnen, ein Zeichen der moralischen Entrüstung angesichts der Geschehnisse. Danach wurde ja auch klargestellt, dass die USA keinen Regimewechsel in Russland verfolgen.

Deutschland wird vorgeworfen, nach dem Angriff auf die Ukraine spät reagiert zu haben – wird die Bundesrepublik ihrer internationalen Verantwortung gerecht?

Es gibt nun einmal unterschiedliche Sensibilitäten bei den Partnern der Regierungskoalition in Deutschland. Das hat man zu Beginn der Krise gemerkt, als die Regierung erst mit Verzögerung reagierte. Die anfängliche Zusage, 5.000 Helme an die Ukraine zu liefern, wurde weltweit belächelt. Aber dann hat Deutschland gut reagiert. Den Verteidigungshaushalt zu erhöhen, ist eine wichtige Entscheidung. Die diplomatischen Bemühungen von Scholz gegenüber Putin wurden ebenfalls sehr positiv beurteilt. Viele von uns in Europa erwarten eine stärkere Führungsrolle Deutschlands gemäß seiner wirtschaftlichen Bedeutung .

Muss sich Deutschland vorwerfen lassen, mit dem Import von Erdgas aus Russland den Krieg zu finanzieren?

Das kann man uns im Prinzip allen in Europa vorwerfen. Wir importieren 4,5 Millionen Barrel Öl pro Tag und 40 Prozent unseres Gas- bedarfs, täglich überweisen wir an Russland rund 700 Millionen Dollar. Der Vorwurf trifft also zu. Aber Deutschland hat das Projekt Nordstream2 abgesagt und reduziert den Ölimport bis Jahresende auf null, der Kurs wird derzeit nach und nach korrigiert. Ich denke wirklich, Deutschland agiert derzeit gut.

Und Spanien?

Auch hier haben wir verschiedene Sensibilitäten in der Koalitionsregierung. Die Entsendung von Kriegsmaterial fiel der Regierung nicht leicht, Podemos hatte sich dagegen ausgesprochen. Die Solidarität zeigt sich aber auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen, und beim Gasimport hängen wir wenig von Russland ab.

Der ukrainische Botschafter in Deutschland ist für seine undiplomatische Art bekannt. Andrij Melnyk warf der Regierung Feigheit vor und beschimpfte Politiker gar als „Arschloch“. Haben Sie dafür Verständnis?

Ein Botschafter sollte niemanden auf diese Weise beschimpfen oder sich in die interne Politik eines Landes einmischen. Er sollte die Dinge beim Namen nennen, aber diskret vorgehen, um das Beste für sein Land zu erreichen. Natürlich steht der ukrainische Botschafter auch unter gewaltigem Druck, da sein Land angegriffen wird. Es muss frustrierend sein, da die Hilfe nicht ausreichend ist. Aber ein Diplomat sollte niemals die Nerven verlieren.

Wie würden Sie als Diplomat gegenüber Putin auftreten?

In dieser Krise ist Diplomatie nötig, und man muss alles versuchen, um diesen Krieg zu stoppen. Innerhalb der diplomatischen Möglichkeiten würde ich mit Putin sprechen, und nicht nur das. Wenn dadurch Menschenleben gerettet werden, würde ich auch versuchen, ihm einen Ausweg aus dem Dilemma zu erleichtern, in das er sich manövriert hat.

Im Kapitel über lokale Konflikte in Ihrem Buch führen Sie die Ukraine und Weißrussland erst an zweiter Stelle auf, nach Taiwan. Droht dort eine noch größere Krise?

Ich hatte die Ukraine als möglichen Krisenherd angesehen. Bei Taiwan dagegen bin ich auf mittelfristige Sicht fast sicher: Wenn sich die Dinge nicht ändern, werden wir in fünf, sechs Jahren in Taiwan ein Problem haben.

Hat die Eskalation, die wir derzeit erleben, keine abschreckende Wirkung? China ist ohnehin gerade in einer schwierigen Rolle ...

In der Tat. Russland ist strategischer Partner, kein Alliierter. Russland verletzt Prinzipien internationalen Rechts, die China sehr schätzt, etwa die territoriale Integrität oder die Nichteinmischung in interne Vorgänge. Das sind für China rote Linien. Das Land hat nun eine einzigartige Gelegenheit, Einfluss auszuüben, um zu zeigen, dass es seine Verantwortung als großes Land für den weltweiten Frieden annimmt.

Bedeutet der Ukraine-Krieg den Eintritt in eine neue Phase weltweiter Instabilität?

Ja, wir lassen eine von den 1945 etablierten Normen geregelte Welt hinter uns. Es fehlen Institutionen zur Beilegung von Konflikten. Es ist ein Übergang von einem Multilateralismus zu einem unperfekten Bipolarismus: Die USA und China werden den Ton angeben, aber sie müssen die Atommacht Russland und die Wirtschaftsmacht Europa miteinbeziehen.