Mallorca Zeitung

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Von wegen Bauerninsel: Mallorca war vor dem Tourismus ein hochentwickelter Industrie-Standort

Neue Studien erklären, wie vielseitig die Industrie einst war und warum sie aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand

Eine Textilfabrik in Palmas Stadtteil La Soledad. Archiv

Die Arbeiter rücken jetzt wieder in der Fabrik von Sa Garrovera in Pont d’Inca an. Nicht etwa, um den Betrieb wieder aufzunehmen, sondern um das verlassene Fabrikgelände von Schutt zu befreien und wieder herzurichten. Zwar erwarb die Gemeinde Marratxí bereits vor sieben Jahren das Gelände, auf dem früher riesige Mengen Johannisbrotschoten industriell zu Alkohol und Mehl verarbeitet worden waren. Doch erst jetzt sind Instandsetzungsarbeiten für knapp 700.000 Euro vergeben worden.

Die damit beauftragte Firma soll das Dach abdichten, Bauteile aus Fiberzement entfernen und Rohrleitungen ersetzen – erste Arbeiten, um den 5.500 Quadratmeter großen Komplex in Zukunft für Vorträge, Ausstellungen und weitere Veranstaltungen der Gemeinde nutzen zu können, sozusagen mit der Fabrikkulisse als Hintergrund.

Mallorca im Takt der Maschinen Frank Feldmeier

Die industrielle Geschichte der Insel würde damit zumindest wieder ein kleines Stück sichtbarer. Denn aus dem öffentlichen Bewusstsein auf der Insel ist sie weitgehend verschwunden – gerade so, als wäre die Insel der Bauern und Fischer, der Jäger und Köhler von einem Tag zum anderen zur Urlaubsinsel geworden. Die Industrialisierung, die fand nach dieser Vorstellung vorwiegend woanders in Spanien statt, in den Stahlwerken des Baskenlands etwa oder den Textilfabriken Kataloniens.

Warum das nicht stimmt, aber auch, wie sich diese Geschichtsvergessenheit auf Mallorca erklären lässt, untersucht ein neues Buch, das die Wirtschaftswissenschaftler und Historiker Carles Manera und Ramon Molina jetzt herausgegeben haben („Industrialització històrica i nova indústria a les Balears 1855–2022“). Es sei eine durchweg falsche Annahme, dass erst der Tourismus die Moderne auf Mallorca eingeläutet habe, betont Manera im Gespräch mit der MZ – die Urlauberindustrie werde als Wirtschaftsfaktor idealisiert. Mit seinem Team forsche er inzwischen seit 30 Jahren zur Wirtschaftsgeschichte der Insel, bereits neun Doktorarbeiten seien entstanden, sagt Manera. Auch einige Kuriositäten kamen dabei ans Licht.

Eine eigene Arbeiterklasse

Mallorca war kein Pionier der Industrialisierung, aber die Insel war überdurchschnittlich gut dabei – so ließen sich die zusammengetragenen Statistiken und Beispiele in einem Satz zusammenfassen. Umgerechnet auf die frühere Einwohnerzahl lagen die Werte der Industrieproduktion lange über dem spanischen Durchschnitt. Mehr als 30 Prozent der aktiven Bevölkerung arbeiteten in den 1930er-Jahren in der Industrie, es entstanden Fabriken mit mehr als 400 Arbeitern.

Es gab sogar einen Zeitpunkt im Jahr 1952, als der Index der Industrieproduktion der Balearen den auf Katalonien übertraf. Das Blatt wendete sich dann rasch mit dem Siegeszug des Massentourismus – es war 1965, als sich die Vorzeichen endgültig umkehrten und die Insel sich mit Herz und Seele dem Dienstleistungssektor verschrieb.

Das Verdickungsmittel E-410

Was aus heutiger Sicht als bäuerliche Idylle wahrgenommen wird, war in Teilen schon industrielle Produktion, wie auch die Fabrik Sa Garrovera in Marratxí zeigt. Den wenigsten Einwohnern der Gemeinde dürfte der Name Josep Sureda etwas sagen. Der Chemiker studierte und forschte einst bei Nobelpreisträger Heinrich Otto Wieland in München. Als Fabrikdirektor legte er später den Grundstein für die industrielle Herstellung von Johannisbrotkernmehl. Das 1947 unter dem Namen Aprestagum patentierte Produkt ist in seiner verfeinerten Form heute in der Lebensmittelindustrie als Verdickungsmittel E-410 bekannt.

Beispiel La Harinera Balear. Bei dem österreichisch-ungarischen System, das die Ingenieure Pere d’Alcàntara Penya und Eusebi Estada Ende des 19. Jahrhunderts auf Mallorca einführten, wurde weißes und dunkles Mehl durch die getrennte Vermahlung von Korn und Schale hergestellt und an unterschiedliche Märkte ausgeliefert: weißes Mehl für England, Frankreich und Deutschland; dunkles Mehl für den heimischen Markt. Der Name pan de Viena für das Brot aus bestem Weißmehl stammt von dieser Herstellungsmethode mit den österreichisch-ungarischen Maschinen. Das billigere pan moreno war dagegen für die Arbeiterschaft bestimmt. Denn auch eine solche gab es auf der Insel, wie im Buch betont wird.

Viele Patent-Einträge

Das auf Mallorca angemeldete Patent für den Verarbeitungsprozess war das erste in ganz Spanien. Die Autoren widmen denn auch der Auswertung solcher Anträge ein eigenes Kapitel. Mit im Schnitt 31 registrierten Patenten pro eine Million Einwohner und Jahr im Zeitraum 1882 bis 1935 lagen die Balearen spanienweit an sechster Stelle hinter Katalonien, Madrid, dem Baskenland, Valencia und Kantabrien.

Vor allem in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg (1924–1918) und dem Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) gingen viele Anträge von Mallorca ein. Besonders kontinuierlich war das etwa im Bereich Chemie der Fall – von Verarbeitungsprozessen in den Salinen über das Einfärben von Keramikfliesen bis hin zur Fabrikation von Desinfektionsmitteln.

Weiterentwicklung von Verfahren aus anderen Ländern

Die Insel brachte zwar keine revolutionären Erfindungen hervor, bewies aber Kreativität bei der Übernahme, Anpassung und Weiterentwicklung von Verfahren aus anderen Ländern. Das zeigte sich besonders in der Leder- und Schuhindustrie, einer Schlüsselbranche auf Mallorca, deren Leistungen seit 2018 das kleine Museu del Calçat i de la indústria in Inca würdigt. 202 Patenteinträge gingen in diesem Bereich zwischen 1879 und 1966 ein – die Maschinen wurden zwar importiert, die Herstellungsprozesse aber dann modifiziert und optimiert.

Etwa im Bereich der Gummisohlen. Für die Vulkanisierung meldete die Firma Calçats Salom S.A. das System des vulbatemcuero zum Patent an. Das Ergebnis mit dem Markennamen Gorila war ein besonders stabiler Schuh, der vor allem für Schulkinder produziert wurde. In der Fabrik in Palmas Stadtteil La Soledat fanden Hunderte Menschen Arbeit.

In der Schuhherstellung waren die Balearen spanienweit zusammen mit der Region Alicante führend, in der Lederherstellung zusammen mit Murcia. Mehr als 40 Prozent der landesweit hergestellten und ins Ausland exportierten Seifen verließen Spanien über balearische Häfen.

Produktion von Dampflokomotiven

Zwischen all den Zahlen, Tabellen und Grafiken finden sich auch Kuriositäten. Dass Mallorca in der Automobilindustrie mit Loryc zumindest eigene Akzente setzte, ist durch das zweite Leben der Marke als Elektroauto inzwischen bekannt: Der „Torpedo“ wurde 1926 in einer kleinen ehemaligen Kutschenwerkstatt in Palma handgefertigt, bis zum Bankrott des Unternehmens 1926 verließen etwa hundert Autos die Fabrik. Der Betrieb FFMM produzierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar einzelne Dampflokomotiven, nach Modellen der britischen Firma Nasmyth & Wilson.

Schließlich verfügte die Insel einmal über ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz. Dass die für die Wirtschaft so wichtige Linie Palma–Santanyí im Jahr 1964 wohl nicht zuletzt wegen des Baus des Großflughafens Son Sant Joan stillgelegt werden sollte, symbolisiert denn auch auf ganz eigene Weise, wie das Urlaubergeschäft die Industrie von der Insel und aus der Wahrnehmung verdrängte.

Industrie über die ganze Insel verteilt

Die Industrialisierung umfasste praktisch die ganze Insel. Sóller webte Baumwolle, Esporles spezialisierte sich auf Wolldecken, Andratx stellte Seife her, Pont d’Inca veredelte landwirtschaftliche Erzeugnisse, Inca und Lloseta fertigten Schuhe, Pollença Teppiche, Manacor Möbel – sowie auch Kunstperlen: Das ausgefeilte Verfahren der Firma Majorica, bei dem als Kern statt der üblichen Glasperlen unter Hochdruck gehärtete Sandkerne verwendet und diese mit einem Mantel von zig Schichten einer Masse aus perlmutthaltigen und perlmuttähnlichen Materialien wie etwa Fischschuppen versehen wurden, ist weniger Souvenir-Folklore als ein Beispiel für eine hochentwickelte Industrieproduktion. Und sogar an einem Fernseher wurde auf Mallorca gebastelt: Bei den Forschungsarbeiten für das Buch fand sich in den Patentanträgen ein Eintrag über den in Alaró gefertigten Prototypen eines TV-Empfängers.

Warum geriet das Industrieerbe in Vergessenheit?

Wie konnte dieses reiche und bunte Industrieerbe ausgeblendet werden? Die Autoren verweisen darauf, dass es auf der Insel nicht die typischen Ikonen der industriellen Revolution gegeben habe, charismatische Unternehmerpersönlichkeiten etwa, wegweisende Entwicklungen oder auch Arbeiterrevolten. Die Fabriken dominierten nicht das Stadtbild, vielmehr wurde vor allem dezentral sowie in Heimarbeit produziert. Ohnehin bestanden traditionelles Handwerk und industrielle Produktion lange Zeit nebeneinander fort. Hinzu kommen der verklärende Blick früherer Balearen-Reisender und die Folklore-Vorliebe des frühen Massentourismus.

Umso wichtiger sei es, Mallorcas industrielles Erbe in einem Museum aufzubereiten, argumentiert Manera. Als Vorbild nennt er das Museu Nacional de la Ciència i la Tècnica de Catalunya. Das Konzept: statt einem großen Museumsbau ein Netzwerk dezentraler Ausstellungsorte, sei es in der früheren Textilfabrik Fábrica Nova von Sóller, dem früheren Kraftwerk von Alcúdia oder eben Sa Garrovera in Pont d’Inca.

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