Sergei Loznitsa ist vor allem für seine Filme über die russische Provinz bekannt. Der Ukrainer, der seit 20 Jahren in Deutschland wohnt, hat sich aber auch viel mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt. In seinem Dokumentarfilm „Babyn Jar. Kontext“ zeigte er Aufnahmen von dem Mord an 33.000 Juden durch deutsche Einsatzgruppen im Jahr 1941 in dem Tal Babyn Jar außerhalb von Kiew.

Auf dem Atlàntida Film Fest erhält der 57-Jährige den Preis Master of Cinema für sein Lebenswerk und zeigt seinen neuesten Film „On the Natural History of Destruction“. Er basiert auf dem Buch „Luftkrieg und Literatur“ des deutschen Schriftstellers W. G. Sebald (1944–2001) und zeigt die Bombardierung deutscher Städte während des Zweiten Weltkriegs.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, spezifisch die Zerstörung deutscher Städte zu zeigen?

Weil es eine Tragödie ist, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gut aufgearbeitet wurde. Es gibt kaum ernsthafte literarische Betrachtungen davon. Eine Ausnahme ist vielleicht „Slaughterhouse-Five“ von Kurt Vonnegut, dort wird die Bombardierung Dresdens behandelt. Heinrich Böll schrieb 1950 den Roman „Der Engel schwieg“, der im zerstörten Köln spielt. Doch der wurde erst 1994 veröffentlicht. Diese vielen Jahre, die bis zur Veröffentlichung vergehen mussten, sagen viel aus.

Darum geht es in dem Essay von W. G. Sebald, auf dem Ihr Film beruht. Er kritisiert, dass die deutsche Nachkriegsliteratur den Bombenkrieg nicht genug aufgearbeitet hat.

Als W. G. Sebald im Jahr 1999 sein Buch veröffentlichte, gaben ihm nicht alle recht. Er wurde dafür viel kritisiert. Sebald stieß aber eine wichtige Debatte an. Noch heute ist die Frage bedeutend, inwiefern Zivilbevölkerung und Städte als Mittel im Krieg verwendet werden dürfen.

Beziehen Sie sich auf den Krieg in der Ukraine?

Russland zerstört die Ukraine gerade genauso wie Deutschland damals Frankreich, Großbritannien und auch Guernica zerstört hat. Und wie später wiederum die US-Amerikaner und Briten deutsche Städte zerstörten. Im Jahr 2022 stehen wir in Europa einmal mehr vor demselben Problem: Wie Krieg führen, gegen jemanden, der solche Waffen einsetzt?

Wie ist es für Sie, genau jetzt auf einem Festival einen Film über Bombardierungen zu zeigen?

Es fühlt sich sehr schlecht an. Ich würde alles dafür tun, wenn ich diesen Krieg irgendwie verhindern könnte. Seit er begonnen hat, verstehen wir Ukrainer vieles besser. Wir haben gelernt, dass diese Form, Krieg zu führen, immer noch existiert und dass die russischen Bürger in ihrem Land den Krieg nicht aufhalten. Außerdem haben wir gelernt, dass die Ukraine bis zum letzten Atemzug kämpfen wird und dass der Rest der Welt nicht weiß, wie er auf diese Situation reagieren soll. Wir sind in einer schwierigen Situation und keiner weiß, wie es enden wird.

Soll Ihr Film eine Analogie zu der aktuellen Situation in Ihrem Heimatland sein?

Nein. Wir haben im Jahr 2017 angefangen, Geld für diesen Film einzutreiben, also noch vor dem Krieg. Seit 2014 ist Russland zwar gegenüber der Ukraine aggressiv, aber nicht in dem heutigen Ausmaß. Damals gab es keine Bombardierungen.

Hätten Sie gedacht, dass es zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommt?

Ja, ich hatte es erwartet. Wenn ein Imperium wie die Sowjetunion zusammenbricht, gibt es immer Kriege. Ukraine, Russland und Weißrussland sind so ähnlich und doch so unterschiedlich. Schon vor Jahrhunderten hat es in dieser Region Kriege gegeben. Der jetzige ist am Ende bloß die Fortsetzung all jener Konflikte, die es schon vorher gab.

Und wie könnte der Krieg beendet werden?

Dieser Krieg kann nur auf zwei Arten enden. Entweder, wenn das russische Imperium zusammenbricht, oder wenn Russland die Ukraine besiegt und einverleibt. Das sind zwei sehr extreme und sehr unterschiedliche Möglichkeiten. Und bis eine von beiden eintrifft, werden noch Jahre vergehen. Ich kann natürlich nicht in die Zukunft sehen. Aber ich denke, es wird ein langer Krieg. Es gibt inzwischen so viel Hass zwischen Russen und Ukrainern, dass kein Dialog und kein runder Tisch den Konflikt lösen kann.

Trotz all dieses Hasses sprechen Sie sich öffentlich dagegen aus, russische Filme zu boykottieren. Und in Ihrem neuen Film zeigen Sie das Leiden der deutschen Angreifer.

Wir sollten nicht von der Bevölkerung als Ganzes, sondern von Individuen sprechen. Wir haben bereits in einer Welt gelebt, in der alle Deutschen böse waren, in der alle Japaner schlechte Menschen waren. Das ist selbstverständlich nicht so. Und genauso wenig kann ich sagen, dass alle Russen böse sind und das totalitäre Regime verteidigen. Ich bin komplett gegen die Idee der kollektiven Schuld. Ich dachte, wir hätten diese Sichtweise nach dem Zweiten Weltkrieg überwunden. Wir müssen dazulernen. Wir können nicht alle Menschen kollektiv bestrafen.

Werden Sie auch über den Krieg in der Ukraine einen Dokumentarfilm drehen?

Ja, natürlich. Ich werde mich auf die Kriegsverbrechen der russischen Soldaten konzentrieren. Allerdings werde ich damit nicht beginnen, solange die Situation in der Ukraine sich nicht verbessert hat.

Um wieder auf Ihren jetzigen Film zu kommen: Sie zeigen Archivaufnahmen, lassen sie aber komplett unkommentiert. Wieso?

Ich will dem Zuschauer nicht meine Meinung aufdrängen. Stattdessen soll er selbst die Antwort auf seine Fragen suchen, während er den Film sieht. Wenn man eine neue Stadt besichtigt, muss man sich auch selbst zurechtfinden. Und was man dabei lernt, ist sehr wichtig. Ähnlich soll es bei meinen Filmen sein.

Selbst wenn es Propaganda-Material ist?

Ich verwende Bilder und Ausschnitte aus Propaganda-Medien. Meine Filme selbst sind aber keine Propaganda. Höchstens Propaganda für mich und meine manchmal unbequemen Ideen.

Im Film sind teils grausame Bilder zu sehen, zum Beispiel von einem toten Baby. Ist es schwer, all das Archivmaterial zu sichten?

Es ist mein Job. Ich muss mit solchen Bildern umgehen können, ohne dass sie mich kaputtmachen. Das ist wie ein Chirurg, der auch Operationen am Herz oder Gehirn machen muss, ohne dass ihm dabei schwindelig wird.

Sie haben beim Atlàntida Film Fest den Preis Master of Cinema erhalten. Was bedeutet Ihnen so ein Preis?

Ich bin sehr dankbar für den Preis und dafür, dass mein Film auf dem Festival gezeigt wird. Ich glaube, dass dadurch viel mehr Menschen auf den Film aufmerksam werden und ihn sehen. Und dass damit auch viel mehr Menschen seine Botschaft verstehen werden.