Sie ist ungewohnt, die Gänsehaut, die einen überkommt, so mitten im August. Aber schnell gewöhnt man sich an die 17 Grad, die in den Höhlen herrschen. Mehr noch: Gerade im Sommer bieten die Coves d’Artà eine willkommene Hitzepause.

Zugegeben: Im Vergleich zu den riesigen Besucherhöhlen Coves del Drach in Portocristo kommen die Coves d’Artà eher bescheiden daher. Keine unterirdischen Meerwasserseen, keine Bootsfahrt, kein Streicherkonzert. Dafür dürfen Kinder bis sieben Jahre kostenlos hinein und die Führung ist persönlicher: maximal 50 Personen je Rundgang. Bei der ersten Gruppe an diesem Freitagmorgen (6.8.) sind es sogar deutlich weniger. Pep Gil, ein launiger Mallorquiner, begrüßt jeden Gast einzeln. Seit elf Jahren leitet er bereits die Touren, spricht Deutsch, Spanisch, Englisch und Französisch. „Man könnte fast meinen, es seien meine Höhlen, so viel Zeit wie ich hier verbringe“, scherzt er.

Stimmt aber nicht: Es sind seine Chefs – besser: die Firma s’Heretat SA –, die die Unterwelt verwalten und nach einer Corona-Zwangspause im vergangenen Frühjahr wieder an sieben Tagen die Woche ganzjährig Interessenten einlassen. Ihre Vorfahren verwandelten die Höhlen in den vergangenen Jahrhunderten in die Besucherattraktion, die sie heute ist. „Seit über 300 Jahren gehören die Höhlen der Familie Sa Forteza. Es ist immer noch ein Familienunternehmen“, berichtet Geschäftsführer Miguel Ginard. Erstmals 1806 hätten die Ahnen der aktuellen Inhaber hier Führungen angeboten. „Keine Höhle Europas kann eine so lange Besuchertradition aufweisen.“ Damals sei man noch mit Fackeln durch die Höhle gezogen, um in der Finsternis nicht umherzuirren. Bis heute ist der Kalkstein an vielen Stellen mit dem schwarzen Ruß überzogen, der einst emporstieg.

Wie ein Schlund: der direkt am Meer gelegene Eingang zur Höhle in der Bucht von Canyamel. Nele Bendgens

Aus Freude am Staunen

Doch auch 300 Jahre sind natürlich ein Klacks, wenn man bedenkt, dass die Höhlen selbst bereits vor 150 Millionen Jahren entstanden sind. Die Steinformationen im Inneren sind etwa fünf bis sechs Millionen Jahre alt. Tatsächlich scheint die Zeit hier stillzustehen. 100 Jahre dauert es, bis ein Tropfstein etwa einen Kubikzentimeter wächst. Im ersten Raum, der gleich hinter dem Eingangstunnel liegt, gibt Führer Pep Gil in vier Sprachen seine kurze Basis-Lektion: „Stalaktiten wachsen von oben nach unten, bei den Stalagmiten ist es umgekehrt.“ Vermutlich hat mindestens die Hälfte der Besucher das am Ende des 40-minütigen Rundgangs schon wieder vergessen. Macht aber nichts. Man ist ja hier, um zu staunen, und dazu gibt es viel Gelegenheit.

Bereits in der zweiten Halle, die durch einen etwas feuchten, aber gut befestigten Weg zu erreichen ist, kann man einen wahren Wonneproppen von Stalagmit sehen. „Wir nennen sie die Königin“, sagt Pep Gil und deutet auf das 17 Meter hohe Steingebilde. Dann geht es, leicht gebückt wegen der tief hängenden Decken, ab in die „Hölle“. Anders als im Rest der Höhle sind hier nur wenige LED-Lampen entzündet und lassen erahnen, wie rabenschwarz die Finsternis sein muss, die hier ohne menschliches Zutun herrscht. Von einem Geländer aus kann man in einen Abgrund schauen, der nur drei Meter über dem Meeresspiegel endet und 45 Meter unter dem Eingang liegt. Plötzlich erklingt Carl Orffs „O Fortuna“ und eine kurze Lichtshow beginnt. Etwas Spektakel muss eben doch sein. Handykameras werden gezückt, die Gruppe staunt.

Höhenrekorde in der Tiefe

Im weiteren Verlauf des Rundgangs appelliert Pep Gil an die Fantasie der Gäste. Mit etwas Vorstellungskraft sind ein Mammut, ein Lamm oder auch Engelsflügel zu erkennen. Quallenartige Steinformationen an den Wänden zieren die bis zu 45 Meter hohen Gewölbe. Weder die Höhlen in Portocristo noch die in Palmas Vorort Gènova oder die in Campanet wiesen so hohe Decken auf.

„Leben gibt es in diesen Höhlen kaum. Wir wissen aber von einer kleinen Fledermauspopulation, die sich vorwiegend im Winter zeigt, und von einigen Spinnenarten“, erläutert Gil, als er sich am Ende der Tour an der steilen Treppe von seinen Besuchern verabschiedet. Draußen trifft die Hitze die Hinauskommenden umso heftiger. Doch wer denkt ans Schwitzen, wenn er einen spektakulären Blick über die Bucht von Canyamel vor Augen hat?

Ja, wo denn nun?

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Richtig, Canyamel. „Früher gehörte die Umgebung um die Coves d’Artà noch zum Gemeindegebiet Artà, daher der Name“, erklärt Geschäftsführer Miguel Ginard am Kassenhäuschen. Mittlerweile haben sich hier zahlreiche Besucher gesammelt, die nächste Führung steht an. Erst in den 1850er-Jahren löste sich die Gegend von der Verwaltung Artàs. Seitdem ist Capdepera die zuständige Gemeinde, doch der Name blieb.

Menschen haben vermutlich nie in den Höhlen gelebt. Zwar hielten Einheimische hier etwa 2000 Jahre v. Chr. Rituale ab. Auf längere Aufenthalte deute aber nichts hin. Pep Gil: „Bei dem tollen Klima auf Mallorca muss man doch nicht in Höhlen hausen. Es reicht, sie zu besuchen.“