„Nein, meine Töchter sind nie müde geworden, sich Märchen anzuhören“, sagt Caterina Valriu und lacht. Die 60-Jährige kennt sie alle, die Mythen, Sagen und Legenden von Mallorca. Sie ist Dozentin an der Balearen-Uni für katalanische Philologie. Ihr Spezialgebiet: die Erzählungen der Insel. Und davon gibt es viele.

„Die rondaies mallorquines enthalten rund 400 Geschichten“, erklärt Caterina Valriu. Zum Vergleich: Die Grimm’schen Märchen kommen auf 200 Stück. Die rondaies sind eine Sammlung der mallorquinischen Märchen, die ab 1880 erschien. Zusammengestellt und in neun Bänden niedergeschrieben hatte sie der Linguist Antoni Maria Alcover Sureda unter dem Pseudonym Jordi des Racó.

So gibt es auf Mallorca zahlreiche Geschichten von versteckten Schätzen, Riesen und Hexen. Auch historische Figuren spielen eine wichtige Rolle. Die Erzählungen haben nicht selten einen biblischen beziehungsweise christlichen Hintergrund. „Die zentralen Motive solcher Legenden ähneln sich, egal ob sie von Mallorca, aus Deutschland oder der Türkei stammen. Lediglich die Schauplätze, Namen und Szenen wechseln“, fügt Caterina Valriu an.

Caterina Valriu forscht und lehrt seit Jahrzehnten zu den Legenden, Sagen und Erzählungen Mallorcas. PAULA MÜLLER

Wann genau die Geschichten entstanden, lässt sich nicht sagen, erklärt die Expertin. Durch mündliche Überlieferungen wurden sie zudem im Laufe der Jahrhunderte verändert und angepasst. So ranken sich Mythen und Legenden beispielsweise um die Eroberung Mallorcas durch den aragonesischen König Jaume I. im Jahr 1229. Unter anderem soll es an mehreren Stellen auf der Insel Hufabdrücke seines Pferdes geben – ähnlich wie der Roßtrappe im Harz. „Wenn sich eine historische Persönlichkeit derartig stark im Kulturgut wiederfindet, ist sie ins kollektive Gedächtnis eingegangen“, erklärt die Universitätsdozentin.

Ein wahrer Kern

Einige Märchen sind auf der Insel besonders bekannt. „Wenn sich die Mallorquiner auf den Weg nach Lluc machen, wird immer die Legende von ‚El salt de la bella dona‘ erzählt“, sagt die Expertin. Eine brutale Geschichte. Sie handelt von einer schönen Frau, die nahe dem Kloster Lluc einst von ihrem eifersüchtigen Ehemann einen Abhang hinuntergestoßen wurde. Als er seine Tat bereut und in Lluc die Jungfrau anbeten will, findet er dort seine Frau wieder, die ihm verzeiht. Laut der Legende rettete sie ein Engel.

„Die Popularität der Geschichten wandelt sich immer wieder. Seit einigen Jahren ist ‚Es Drac de na Coca‘ besonders beliebt“, erklärt Caterina Valriu. Die Sage mit wahrem Kern handelt von einem Ungeheuer, das in Palmas Untergrund lebte. Der Edelmann Bartomeu Coch brachte das Ungetüm zur Strecke und zeigte es seiner Geliebten als Zeichen seiner Liebe.

Ein Drache und eine Liebesgeschichte – das ist der Stoff, aus dem populäre Legenden gemacht sind. Eine Figur des Drachentiers steht übrigens im Rathausfoyer von Palma und ist fester Bestandteil des Stadtfestes. Wer den echten „Drachen“ einmal sehen möchte, kann das mumifizierte Tier im Diözesan Museum in Palma sehen. Denn es gab das Ungetüm wirklich, allerdings handelt es sich eigentlich um einen Kaiman. Unklar ist, wie er auf die Insel kam. Es gibt Theorien, dass das Krokodil als blinder Passagier mit Schiffen aus Afrika übersetzte, oder dass eine neureiche Familie das einbalsamierte Tier als Geschenk erhielt. Hinter dem Märchen von Es Drac de na Coca verbergen sich also wiederum Legenden.

„Meine Lieblingsgeschichte ist die von der Entstehung des Bergs Randa“, fügt die Sprachwissenschaftlerin an, die aus Inca stammt. Mit ihr sind gleich drei Orte auf Mallorca verbunden. Ein Riese segelte von Nordafrika aus nach Mallorca. Jedes seiner Beine stand auf einem Schiff. Der Riese hatte einen Korb voller afrikanischer Erde und einen Wanderstock bei sich. Als die Schiffe die Insel Cabrera erreichten, trennten sich ihre Wege. Der Riese verlor dabei das Gleichgewicht. Der Korb mit Erde fiel herab, so entstand der Berg Randa. Der Wanderstock bohrte sich in die Erde und ließ einen tiefen Brunnen nahe der Cala Pi entstehen. Die Tränen, die der Riese anlässlich dieses Missgeschicks vergoss, wurden zur Quelle Font de la Vila, die heute noch Palma mit Trinkwasser speist.

Die Erzählungen beeinflussen die traditionellen Feste Mallorcas, erklärt Valriu. So fand nicht nur der Drac de na Coca Einzug in die Fiestas. Auch rund um die Eroberungen durch Jaume I. gibt es eine Reihe von Feierlichkeiten, angefangen beim Standartenfest (31. Dezember) in Palma, das als ältestes Volksfest Europas gilt, über die Festes del Rei en Jaume in Santa Ponça.

Ein anderes Beispiel sind die beliebten Spektakel „Moros y cristianos“, die unter anderem in Sóller begangen werden. „Da werden historische Ereignisse mystifiziert. Das dient dem Zusammenhalt und der Identität.“ Auch in den Neo-Fiestas – jenen Feierlichkeiten, die erst vor wenigen Jahren entstanden – finden sich Elemente aus den Volkserzählungen. Unter anderem beim Much in Sineu. Hier hat man sich einen Stier ausgedacht, der einen Schatz am Hügel Puig de Reig bewacht.

App für kleine Märchenfreunde

Das könnte Sie interessieren:

Caterina Valriu forscht nicht nur zu Folklore, sie veröffentlicht diese auch in Kinderbüchern und anderen Projekten. Eines davon ist die Smartphone-App „Illa dels Tresors“, die den Jüngsten die verschiedenen Legenden Mallorcas näherbringt. Zudem ist Valriu Expertin für Ethnopoetik, jener sprachwissenschaftlichen Methode, die mündlich Überliefertes wie Erzählungen und Volkslieder niederschreibt, auf ihre Vielfältigkeit untersucht und in einen soziokulturellen Kontext einbettet. „Die gesprochene Sprache ist voller Bilder“, erklärt die Sprachwissenschaftlerin. Ein Beispiel: Wenn jemand aus vollem Hals lacht, sagen die Mallorquiner, riure per ses butxaques. „Das bedeutet ‚aus den Taschen lachen‘. Diese bildhafte Sprache findet sich auch in den Sagen und Legenden wieder.“

Die Philologin veröffentlicht ihre eigenen Arbeiten auf Katalanisch, darunter auch zwei Bücher mit je 33 Erzählungen von Mallorca und den Balearen. „Das Kulturgut wird in katalanischsprachigen Regionen gut gepflegt“, betont sie. Dabei helfen auch staatliche Förderungen. Das sei wichtig. Denn Sprache und Erzählungen als kulturelles Erbe erhielten die Identität. „Gerade an Schulen in den mallorquinischen Dörfern wird viel mit den alten Erzählungen gearbeitet. In den Küstenorten und in Palma gehen sie mehr und mehr verloren.“