Mittwoch, 27. Oktober. Es ist 12.45 Uhr, als Doerte Lebender einschläft, ins Koma fällt und stirbt. Die 59-Jährige aus Darmstadt ist die zweite Person auf den Balearen, die die seit Juni in Spanien gesetzlich erlaubte aktive Sterbehilfe in Anspruch nimmt. Sie ist geschminkt, parfümiert, die Fingernägel sind smaragdgrün lackiert. Sie hat sich zurechtgemacht für die „große Reise“, wie sie es nennt. Sie stirbt auf dem Sessel in ihrer kleinen Wohnung in Vila auf Mallorcas Nachbarinsel Ibiza, den sie schon seit Jahren kaum noch verlassen konnte.

„Es ist kein Selbstmord, sondern ein menschliches Grundrecht, würdevoll und schmerzfrei zu sterben“, betonte sie zuvor immer wieder. Genau deshalb hatte sie sich an die MZ-Schwesterzeitung „Diario de Ibiza“ gewandt. „Ich mag das Leben. Aber ich halte diesen Körper nicht mehr aus. Ich will aufklären. Und denen helfen, die Zweifel darüber haben, ob es gut ist oder nicht, sich für das Sterben zu entscheiden.“ Vom 14. September bis zum allerletzten Moment ließ Lebender den Reporter an ihrem Weg teilhaben.

Die Diagnose

24 Jahre war Doerte Lebender alt, als sie die Diagnose erhielt: Multiple Sklerose. Nicht dass es sie besonders schockiert hätte. Sie wusste nicht einmal, was es mit dieser Krankheit genau auf sich hatte. Verstand nicht, warum ihr damaliger Lebensgefährte in Tränen ausbrach, als sie ihm davon berichtete. Ihr fehlte ja kaum etwas. Nur ab und zu waren da diese Kopfschmerzen, und die Schwäche, wenn sie länger unterwegs war. Und diese schwarzen Pünktchen im Gehirn, die auf den Computerbildern zu sehen waren.

"Ich könnte so 20 Jahre weiterleben. Aber ich will so nicht weitermachen."

Die Krankheit blieb im Hintergrund, das Leben ging weiter. Die Ausbildung an einer Gastronomieschule in Salzburg. Der Gesang (Mezzosopran), der Sport, der Einstieg in die Arbeitswelt, ihre Auswanderung nach Ibiza 1998 – all dies hatte Vorrang. Lebender rauchte nicht, trank nie – abgesehen von einem Baileys, wenn ein Freund oder ein Familienmitglied Geburtstag hatte. Sie war ein aktiver Mensch, selbstständig, manchmal fast arrogant, resümiert sie später. Die Multiple Sklerose blieb ein abstraktes Gebilde. Bis vor zehn Jahren.

Doerte Lebender in dem Landhaus auf Ibiza, in dem sie in der ersten Zeit nach ihrer Auswanderung 1998 lebte. Privat

Da begann ihr Körper, nicht mehr so zu funktionieren, wie sie es gewohnt war. Und es wurde immer schlimmer. Lebender musste sich plötzlich beim Gehen abstützen, an Wänden, Zäunen, Möbeln. Erst hin und wieder, dann alle paar Meter. Immer häufiger fiel sie hin, beim Gang auf die Toilette oder in die Küche. Damals lebte sie auf einer Finca im ländlichen Ibiza. Irgendwann konnte sie nicht mehr allein aufstehen. Jedes Mal rief sie dann in ihrer Not bei der Polizei an. Eine Zeit lang mussten die Beamten bis zu zehn Mal am Tag kommen. Einige waren verärgert, andere taten es ohne murren, mit mitleidigem Blick.

„Die Multiple Sklerose ist eine grausame Krankheit, denn sie schreitet immer weiter voran. Zunächst spürte ich rund alle vier Monate, dass motorische Fähigkeiten nachließen. Jetzt alle zwei Wochen. Sie zerstört, aber sie tötet nicht. Ich könnte so 20 Jahre weiterleben. Aber ich will so nicht weitermachen“, sagt Lebender einige Wochen vor ihrem Tod.

Der Gefährte

Es dauerte Jahre, bis sie zu dieser Erkenntnis kam. Zunächst war da ja immer noch die Hoffnung, es könne wieder besser werden. Durch Medikamente, Physiotherapie, ein Wunder. Nur die Tatsache, dass sie Hilfe brauchte, konnte Lebender bald nicht mehr leugnen. Ständige Hilfe. Eigentlich rund um die Uhr.

Sie bat Artur Rettenberger darum. Einen Freund. Einen guten Freund. Den besten, den man sich vorstellen mag. Vier Jahre ist das nun her. Damals kannten sich die beiden bereits seit fast zwei Jahrzehnten, er besuchte sie auf Ibiza, nachdem er von einem längeren Aufenthalt in Südamerika zurückgekommen war. Eigentlich, so sein Plan, wollte er zurück in seine Heimat, nach Österreich. Doch er erfasste sofort, in welchem Zustand Lebender sich befand. Damals ging sie noch mit ihrer Hündin Jacky Gassi, machte sich ihr Essen selbst, rückte ihren Sessel umher. Aber sie hatte Wunden vom vielen Liegen. Und Schmerzen. Überall Schmerzen. „Das hatte nichts mehr mit Würde zu tun.“ Ein halbes Jahr, dann ziehe ich weiter, sagte sich Rettenberger damals. Doch er blieb vier Jahre, bis zum letzten Moment. Und war bis dahin unentbehrlich.

So ist die aktive Sterbehilfe in Spanien geregelt

Als sechstes Land weltweit und viertes in Europa – nach Luxemburg, den Niederlanden und Belgien – hat Spanien die aktive Sterbehilfe am 25. Juni 2021 gesetzlich erlaubt. Sie darf bei Patienten angewandt werden, die entweder unter einer schweren, unheilbaren Krankheit leiden, die ihre Lebenszeit begrenzt, oder eine chronische Krankheit haben, die nicht mittelfristig zum Tod führt. In beiden Fällen muss ein psychisches oder körperliches Leiden vorliegen, das der Patient als „unerträglich“ beschreibt und das „konstant und nicht tolerierbar“ ist. Neben zwei unabhängig voneinander agierenden Ärzten muss eine Expertenkommission zustimmen.

Das Fortschreiten von Doerte Lebenders Krankheit bestimmte fortan den Alltag der beiden. Irgendwann konnte sie gar nicht mehr laufen, auch in den Armen ging ihr die Kraft aus. Zuletzt war sie nicht mal in der Lage, den Notrufknopf vom Roten Kreuz zu drücken, der ihr um den Hals hing. Ihre Schließmuskel gehorchten nicht mehr, ebenso wenig das rechte Augenlid. Selbst das Reden wurde mühsamer.

Vor dieser letzten Etappe, bevor sie nicht mehr schreiben, sich keine Notizen mehr machen konnte, bevor ihre Konzentration immer schneller nachließ und sie ihre ganze Kraft verlor, reisten Doerte Lebender und Artur Rettenberger durch Europa, um Lösungen zu finden im Kampf gegen die Krankheit. Probierten vieles aus. Auch Unsinniges. Ein Homöopath spritzte ihr Wasser in den Arm. 150 Euro kostete der Spaß – und blieb ohne Wirkung.

Doerte Lebender, Artur Rettenberger und die Hündin Jacky an der Küste von Ibiza. Artur Rettenberger

Die Schweiz ist keine Lösung

Langsam, aber sicher wurde auch der Deutschen bewusst, dass dieser Kampf nicht zu gewinnen war. Gut drei Jahre ist es her, dass sich der Gedanke an herbeigeführtem Tod in ihrem Kopf immer weiter verfestigte. Da gab es natürlich die Schweiz, seit Jahren ist Sterbehilfe hier möglich. Lebender und Rettenberger informierten sich. Und fanden es abstoßend. „Das kam mir wie eine Todesmaschinerie vor. Da geht wirklich alles, die Gründe interessieren kaum. Zuerst halten sie die Hand auf, kassieren ab. Sie haben die Einrichtungen in einem Gewerbegebiet“, so Rettenberger. Nein, das waren nicht die Umstände, die sich Doerte Lebender für ihre „große Reise“ vorstellte. „Jeden Abend vorm Insbettgehen wünsche ich mir, dass ich einschlafe und nicht mehr erwache.“

"Würde gibt es nur, wenn es legal ist."

Es folgte eine Phase, in der Doerte Lebender verzweifelt wurde, nervös, panisch. Sie bat Rettenberger, ihr das Leben zu nehmen. Und er recherchierte. Im Internet. Über Medikamente, Möglichkeiten, Orte. Fast hätte er ein Set gekauft. Für 500 Euro, zu überweisen auf ein Konto im Senegal. „Es existiert eine versteckte Welt von verzweifelten Menschen und von denen, die sich daran bereichern. Ich konnte es kaum glauben, als ich diesen Todesmarkt kennenlernte“, so Rettenberger. Die Erfahrung schreckte ihn auf. Zeigte ihm, dass er nicht fähig ist, jemanden umzubringen. Nicht auf diese Weise. Nicht nur, weil er dann unter Umständen ins Gefängnis muss. „Es ist vielmehr eine ethische Frage. Würde gibt es nur, wenn es legal ist. Das Gesetz zur aktiven Sterbehilfe in Spanien ist für Menschen wie sie gemacht. Damit sie diese Entscheidung mit Würde und in Freiheit treffen können.“ Zumal ein fragliches Paket aus dem Senegal keineswegs einen schmerzfreien Tod garantieren hätte können.

Ein neues Gesetz

Einen Lichtblick für Lebender brachten dann im Frühjahr 2018 die innerspanischen Entwicklungen. Bis zum Schluss verehrte Lebender den sozialistischen Premier Pedro Sánchez wie einen Helden. „Politik hat mich nie interessiert, nur jetzt. Für mich war es wie ein Blitz, als ich erfuhr, dass Sánchez im Wahlkampf ankündigte, er wolle das Gesetz zur aktiven Sterbehilfe einführen, wenn er gewinne. Als er das schaffte, fühlte ich große Linderung. Endlich. Es war wie ein Geburtstagsgeschenk für mich.“

Dass die Pandemie die juristischen Prozesse verzögerte, machte Lebender nervös. „Es war ein unendliches Warten“, so Rettenberger. Dann endlich, am 25. Juni dieses Jahres, trat das Gesetz in Kraft. Bereits drei Wochen später, am 18. Juli, stellte die Ibiza-Residentin den offiziellen Antrag auf Sterbehilfe.

Sie brauchte dafür laut Gesetz die Bescheinigung von zwei unabhängig voneinander agierenden Ärzten. Diese müssen unterschreiben, dass ihr Leiden „nicht tolerabel“ ist, dass es keine Heilungschancen gibt, dass die Krankheit chronisch und fortschreitend ist. All diese Bedingungen erfüllte Lebender problemlos. Ihr Neurologe unterzeichnete. Derjenige, der ihr ein Jahr zuvor den letzten Funken Hoffnung genommen hatte. Es werde ihr nie wieder besser gehen, sie werde nie wieder laufen oder tanzen können, hatte er ihr gesagt. Im Gegenteil: Die Krankheit werde ihr Nervensystem weiter angreifen.

Die Voraussetzungen zur Bewilligung sind streng, die Schritte stark reglementiert. Aber genau das sei gut, Lebender. Nicht so wie in der Schweiz, wo jeder Grund abgenickt werde, wenn man nur bezahle.

Auch ihre Hausärztin gab ihre Unterschrift. Die Frau, die Lebender darauf hingewiesen hatte, dass möglicherweise eines Tages auch ihr Kopf nicht mehr richtig funktionieren werde. Das war die größte Angst – gefangen zu sein in einem Körper, der nicht mehr ihr gehört. „Bevor die Krankheit mich überwältigt, gehe ich“, entschied Lebender.

Doerte Lebender einige Wochen vor ihrem Tod auf Ibiza. Artur Rettenberger

Zwei Zustimmungen von Ärzten also, darüber hinaus auch von einer Expertenkommission. Fünf Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen und vier Juristen sitzen auf den Balearen in dem neuen Gremium. Die Voraussetzungen zur Bewilligung sind streng, die Schritte stark reglementiert. Aber genau das sei gut, Lebender. Nicht so wie in der Schweiz, wo jeder Grund abgenickt werde, wenn man nur bezahle.

Die Antwort der Expertenkommission ließ auf sich warten. Doch Lebender war sich sicher: Sie würden ihren Antrag bewilligen. Und so begann sie, mit Artur Rettenberger an ihrer Seite, ihre „Reise“ vorzubereiten. Die Koffer sollten gepackt sein, wenn es losginge. Die Kleidung aussortiert. Ein Teil sollte an Freundinnen gehen, ein Teil an die Caritas. Das Buch hier für ihre Mutter Ilse. Das kleine Boot dort im Regal für ihren Bruder Andreas. „Wir räumen auf, jedes Mal wird es weniger.“

In dieser Situation traf der Reporter auf die Deutsche. Rettenberger hatte ihn kontaktiert, am 14. September. Die Situation in knappen Sätzen geschildert. Gesagt, dass Lebender mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit gehen will, weil sie Aufklärung betreiben möchte, anderen Menschen Ängste oder Zweifel nehmen. „Eine Sache ist, darüber zu reden. Eine andere, sie zu erleben“, sagte Lebender.

Doerte Lebender. Artur Rettenberger

Suche nach Öffentlichkeit

„Hooolaaaa.“ Das ist Lebenders Begrüßung, die jedem entgegenschallt, der ihre Wohnung betritt. Es ist ein gemütliches hola, bei dem man sich zu Hause fühlt, als würde sie einen mit Worten umarmen, weil ihre Arme nicht mehr dazu imstande sind. Bis zum 27. Oktober wird es immer diese Begrüßung sein. In all der Zeit wird Lebender nicht ein einziges Mal ungehalten. Kein Fluch, kein Wort des Selbstmitleids kommen über ihre Lippen. Sie will sterben – oder gehen, wie sie sagt –, aber dabei ist sie positiv. Sie hat nicht die Kraft, einen Knopf zu drücken, doch gleichzeitig fehlt es ihr nicht an Energie. Ihr Körper baut immer weiter ab, aber leidtun will sie niemandem. Sie hört nicht auf zu lächeln, mit den Augen und dem Mund, und sich zu bedanken. Bis zum Schluss.

Doerte Lebender sitzt in einem verstellbaren Sessel. Neben ihr ist das Bett ihrer elfjährigen Hündin Jacky aufgebaut. Die Wohnung ist winzig. Sie hat einen Balkon, der auf eine belebte Straße von Vila hinausgeht. Wohnzimmer und Küche befinden sich im selben Raum. Hier empfängt sie den Reporter. Hier spielt sich fast alles in ihrem Leben ab. Manchmal versucht Rettenberger, sie spazieren zu fahren. Oft kommen sie nicht einmal ein paar Meter aus ihrer Haustür. „Ihre Batterie wird unglaublich schnell leer“, sagt Rettenberger.

Auch er ist ein positiver Mensch. Und auch ihm sind die vergangenen vier Jahre deutlich anzumerken. Er ist ausgezehrt, übermüdet. Nur sechs freie Tage hatte er in all dieser Zeit, und vier Wochen Ferien. Wenn er gar nicht mehr kann, hilft Rafa Alcántara aus, ein Freund der beiden, damit Rettenberger Schlaf bekommt. „Ich bin ausgelaugt“, gesteht er.

"Wir haben einen Körper, der stirbt, aber deine Seele muss ja irgendwo hin."

Er hat keine Hemmungen, das zu sagen. Lebender weiß es ohnehin. Für ihn sei es in letzter Zeit einfacher als zu Beginn, als sie sich noch mehr bewegte und er deswegen mehr eingreifen musste. Als sie weniger Schmerzmittel bekam und zigmal pro Nacht aufwachte. Dem großen Tag sieht er mit gemischten Gefühlen entgegen. „Ich werde beobachten müssen, was danach geschehen wird. Die Pflegenden haben den Hang, erst eine gewisse Freude zu empfinden, weil sie sich befreit fühlen, dann aber in ein Loch fallen.“

Artur Rettenberger und Doerte Lebender. Artur Rettenberger

Auch beim Sprechen muss Rettenberger die Freundin teilweise unterstützen. Sie braucht sehr lange, um sich auszudrücken. Manchmal fehlen ihr die Worte und er springt für sie ein. „Für mich wäre es eine totale Befreiung, wenn dem Antrag stattgegeben würde“, erklärt Lebender. „Wir haben einen Körper, der stirbt, aber deine Seele muss ja irgendwo hin. Wenn sie das tut, dann kann ich an all die Orte, die ich jetzt nicht erreichen kann, und all die Personen besuchen, die ich jetzt nicht sehen kann. Das fühlt sich gut an.“ Sie stellt sich vor, wie die Seele aus dem Küchenfenster entschwebt, wenn es endlich so weit ist.

Die Kommission hat Doerte Lebenders Antrag auf aktive Sterbehilfe stattgegeben. Das hat ihr ihre Hausärztin mitgeteilt. „Wir haben Glück“, hat sie gesagt. „Wir haben es geschafft.

Wenn sich Schleim in Lebenders Hals bildet, muss Rettenberger ihr manchmal auf den Rücken klopfen. Sie hat nicht mehr die Kraft, ihn wegzuhusten, würde ersticken. Auch das wäre der Tod. Aber so will sie ihn nicht.

21. September. Die Kommission hat Doerte Lebenders Antrag auf aktive Sterbehilfe stattgegeben. Das hat ihr ihre Hausärztin mitgeteilt. „Wir haben Glück“, hat sie gesagt. „Wir haben es geschafft.“ Auch für die Medizinerin ist es das erste Mal, dass sie so etwas mit einer Patientin bespricht. Es ist Neuland für alle. Doch nun ist es offiziell, nun ist es sicher. Zwar hat Lebender bis zum letzten Moment das Recht, ihre Meinung zu ändern. Doch in keinem Moment zweifelt sie an ihrer Entscheidung. Oft träumte sie in den vergangenen Monaten davon, Tennis zu spielen – obwohl sie nie zuvor Tennis gespielt hat. Oder Ski zu fahren – dabei war sie nie wirklich gut darin. Jetzt hören die Träume auf. „Ich träume gar nichts mehr, bin einfach entspannt“, erzählt sie. Lebender darf ihren Todestag selbst bestimmen, genauso wie die Art, wie sie sterben will und den Ort. In einem Kalender schauen Lebender und Rettenberger, welcher Tag geeignet ist. Sie entscheidet sich für den 27. Oktober. Weil eine Sieben darin vorkommt, ihre Glückszahl. Und weil es ein Mittwoch ist, ihr Lieblingstag.

Die Details klären

Zunächst beharrt Lebender darauf, das tödliche Medikament selbst zu schlucken. Damit keine der Fachkräfte diese schwere Handlung übernehmen muss. Damit sie nicht zur Last fällt. Doch die Hausärztin rät davon ab. Es sei nicht sicher, ob sie in der Lage sei, das Gift vollständig zu trinken. Es könnte Komplikationen geben. Also lenkt Lebender ein. Das tödliche Medikament soll ihr intravenös zugeführt werden. Wenn möglich, will sie selbst den Knopf drücken, um den Fluss des Betäubungsmittels zu starten, der sie ins Koma versetzen wird, bevor das Todesserum angesetzt wird.

Doerte Lebender mit Freunden. Privat

27. September, noch ein Monat. Am Vortag hat Doerte Lebender ihrer Mutter Ilse von ihrer Entscheidung erzählt. Am Telefon. Ilse lebt in Nürnberg. Sie sei sich nicht sicher gewesen, wie die alte Frau die Nachricht aufnehme, berichtet Lebender. Wochenlang hatte ihr das bevorstehende Gespräch im Magen gelegen. Doch ihre Mutter, die im Alltag gerne Unangenehmes wegschiebe, bewahrt kühlen Kopf, wie schon zuvor in Momenten, in denen es darauf ankam. „Sie sagte mir, dass sie bei diesem Weg an meiner Seite sein wird, aber dass sie wegen ihres Alters nicht kommen kann. Und das ist es, was ich will. Dass sie nicht kommt. Aber dennoch an meiner Seite ist“, beteuert Lebender. Wenn ihre Mutter anwesend wäre – sie hätte nicht die Kraft, ihr Vorhaben durchzuziehen.

"Diese Entscheidung fällt man nicht einfach so, ich habe jahrelang darüber nachgedacht, und es ist kein leichter Weg. Du weißt das Datum, an dem du sterben wirst. Wie ein Verurteilter."

Auch Freunde und ihr Bruder Andreas sind mittlerweile eingeweiht. „Viele kommen und wollen sich verabschieden. Ich will vor allem, dass sie mich verstehen“, sagt Lebender. Verstehen, dass Sterbehilfe kein Selbstmord ist. „Das tut man, weil man keine Verbesserung vor sich hat, keine Zukunft, keinen Ausweg. Diese Entscheidung fällt man nicht einfach so, ich habe jahrelang darüber nachgedacht, und es ist kein leichter Weg. Du weißt das Datum, an dem du sterben wirst. Wie ein Verurteilter.“

Mittlerweile hat sich der kleine Tisch im Wohnzimmer neben ihrem Sessel in eine Art Altar gewandelt. Er ist voller Geschenke und Karten lieber Menschen.

6. Oktober. Lebender und Rettenberger zählen die Tage am Kalender ab. Wieder eine Woche weniger. „Aber für mich ist das eine Befreiung“, versichert sie. Doerte Lebender strahlt noch mehr als in den Wochen zuvor. Ihre Freundin Elke aus Deutschland hat sie besucht. „Ich kenne sie, seit ich 21 Jahre alt bin. Ich habe sie seit 17 Jahren nicht mehr gesehen“, berichtet Lebender. Im vergangenen halben Jahr hatten die beiden den Telefonkontakt intensiviert. Dann stieg Elke mit ihrem Mann ins Flugzeug nach Ibiza. „Ich muss sie doch umarmen“, waren die Worte, mit denen sie ihren Mann überzeugte. Die gemeinsame Zeit war schön. Die Freundinnen lachten und weinten zusammen, gingen sogar shoppen. Was Elke nicht wusste: Die Kleidung, auch die hochhackigen Schuhe mit den Pailletten, die Lebender erstand, will Lebender an ihrem letzten Tag tragen.

Die Dinge ordnen

Es gilt, noch Dinge zu organisieren. Die Urne auszuwählen beispielsweise. Und auch wie ihr toter Körper aus der Wohnung gebracht werden soll. Für Hinterbliebene sei es schwer, solche Dinge im Moment der Trauer zu managen. Das weiß Lebender. Ihr Vater starb, als sie noch jung war, ein Unfall. „Ich will keinen stören und niemanden erschrecken. Die Nachbarn sollen meinen toten Körper nicht sehen“, sagt sie.

11. Oktober. Die Hausärztin und die Palliativmediziner haben Lebender gefragt, ob sie etwas brauche, nervenberuhigende Mittel etwa. „Aber ich bin sehr sehr ruhig, ruhiger denn je.“ Auch weil sie jetzt weiß, dass ihr Bruder Andreas aus Norddeutschland am 27. Oktober zu seiner Mutter nach Nürnberg fahren wird. Damit diese an jenem Tag nicht allein ist. Sie haben abgemacht, dass ihre Hausärztin die Mutter anruft, sobald sie tot ist. „Es reicht, wenn sie sagt: Ich bin die Ärztin von Doerte. Es ist vorbei.“

26. Oktober. Viele Besucher sind da gewesen. Und eine Verantwortliche des Rathauses. Um zu klären, dass die städtische Assistentin, die drei Mal in der Woche zum Duschen kam, nicht mehr benötigt wird. Und dass das von der öffentlichen Hand gestellte Krankenbett, das einen großen Teil der Wohnung ausfüllt, am nächsten Tag abgeholt werden kann. Auch das medizinische Team, das die Sterbehilfe durchführen wird, ist inzwischen da gewesen. Eine Ärztin und zwei Krankenschwestern. Um sich vorzustellen. Zu erfahren, welche Wünsche Lebender hat. Dass sie im entscheidenden Moment auf Augenhöhe sein sollten, antwortete Lebender. Sie wolle aus ihrem Sessel nicht nur die Hintern der Mediziner sehen.

„Schreib, dass es kein Selbstmord ist, verweise auf die strikte Regulierung in Spanien.“

Rettenberger und Lebender planen noch einmal den bevorstehenden Tag. Rettenberger wird natürlich dabei sein. Aber er will nicht sehen, wie der tote Körper hinausgebracht wird. Stattdessen will er in der Zeit mit Hündin Jacky spazieren gehen. „Wegen ihr weine ich. Sie ist die Einzige, der ich es nicht erklären kann, die es nicht versteht“, sagt Lebender. Immerhin ist bereits eine gute Unterbringung in Österreich für sie gefunden.

Ein Tisch im Wohnzimmer hat sich in eine Art Altar verwandelt. José Miguel L. Romero

Eine Bekannte wird Rettenberger am folgenden Tag zum Krematorium fahren. Lebenders Dokumente hat er dort schon abgegeben. Normalerweise passiert das erst nach dem Tod. „Die Situation ist für alle neu“, sagt er.

27. Oktober, 11 Uhr. Artur Rettenberger hat Doerte Lebender bereits gestylt und zurechtgemacht. In der Nacht habe sie erstmals seit Langem wieder geträumt, erzählt sie. Von ihrem Elternhaus. Sie wirkt entspannt, lächelt. Rettenberger legt Musik auf. Herbert Grönemeyer, ihr Lieblingssänger. Das Lied „Feuerlicht“, das sie fast immer vorm Einschlafen hört. Grönemeyer schafft es, dass Lebender und Rettenberger doch weinen, eng umklammert. Der kleine Tisch ist voller Blumen, auch ein Strauß ihrer Psychologin ist darunter. Ständig gehen WhatsApp-Nachrichten ein. Auch von Pilar, einer Freundin. „Du bist so mutig. Ruhe in Frieden, du hast es verdient“, schreibt sie. Es bedeute ihr so viel, sagt Lebender. Bis zu diesem Moment sei sie sich nicht sicher gewesen, dass Pilar sie verstand. Auch den Zeitungsreporter weist sie noch einmal an. „Schreib, dass es kein Selbstmord ist, verweise auf die strikte Regulierung in Spanien.“

Ein Kerze brennt, Doerte hat sie vor 30 Jahren in Notre-Dame bekommen. Sie steht auf dem Kerzenhalter ihrer Taufkerze. Den hat ihr ihre Mutter extra für diesen Tag geschickt.

Es ist so weit

Um 11.49 Uhr kommen das medizinische Team und die Hausärztin. Lebender hört nicht auf, sich zu bedanken, zu lächeln. Um 12.15 Uhr werden die Venenkatheder gelegt. An die Hände, weil die Venen im Arm zu schwer zu erkennen sind. Auch an die linke, für den Fall, dass es an der rechten Komplikationen gibt. Um 12.39 Uhr ist alles vorbereitet. Es ist der Moment des letzten Abschieds. Lebender umarmt jeden im Raum, raunt jedem etwas ins Ohr. Den Medizinern, dem Freund Rafa, dem Reporter, und natürlich Artur Rettenberger. Um 12.45 Uhr aktiviert Doerte Lebender den Fluss des Betäubungsmittels. Eine der Krankenschwestern muss ihr dabei helfen. „Wir reisen dorthin, wo du Frieden findest. Du wirst einen Traum haben, sehr schön, sehr süß“, flüstert ihr die Schwester noch zu.

Um 12.54 ist alles vorbei. Artur Rettenberger lässt den Sessel zurückfahren, legt seiner Freundin ihre Lieblingsdecke – blau mit Sternen – über die Beine. Weist jemanden an, er möge das Küchenfenster öffnen. So wie Lebender es gewollt hatte. Wegen der Seele. Die Hausärztin greift zum Telefon, wählt die Nummer von Lebenders Mutter Ilse. Sie hebt sofort ab. „Ich bin die Ärztin von Doerte“, sagt sie auf Englisch. „Es ist vorbei.“ „Gracias“, antwortet Ilse in gebrochenem Spanisch, „Gracias, gracias. Adiós.“

Übersetzt und bearbeitet von Sophie Mono.