Böse Zungen könnten behaupten, dieses Werk sehe mit seinem Retro-Kuchenbild auf dem Cover aus wie ein Kochbuch aus den 70er-Jahren. Doch auf den gehaltvollen Inhalt kommt es an: Tatsächlich ist die „Història de la cuina i lalimentació a les Illes Balears“ (30 Euro, El Gall Editor) keine Rezeptsammlung, sondern eine Spurensuche der Lebensmittel und ihrer Zubereitung auf den Balearen. Autor Josep A. Tur Marí (Palma, 1957) ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet: Er wirkt unter anderem als Professor für Physiologie und Leiter einer Forschungsgruppe am biomedizinischen Zentrum Ciberobn und widmet sich seit Jahrzehnten mit Leidenschaft dem Thema Ernährung.

„Der historische Aspekt davon hat mich schon immer fasziniert. Warum essen wir so, wie wir es tun? Warum mögen wir auf den Balearen zum Beispiel empanadas so gern?“, sagt er im MZ-Gespräch. Er sei zwar kein Historiker, aber „Geschichts-Fan“ und habe seine eigenen Kenntnisse mit gezielter Recherche ergänzt, um die kulinarischen Traditionen der Insulaner bis zum Ursprung zurückzuverfolgen – vom Talaiotikum über die verschiedenen Zivilisationen bis heute.

Das Ergebnis sollte auf jeden Fall leicht verdaulich und persönlich sein: „Ich wollte ein Buch mit wissenschaftlicher Grundlage schreiben, aber für ein breites Publikum. Daher habe ich auf Zitate und Quellenangaben verzichtet, weil ich die Leser nicht verschrecken wollte“, erklärt Tur.

Buchautor und Ernährungsexperte Josep A. Tur Marí privat

Die Entzauberung der Tomate

Für traditionsbewusste Mallorquiner, die stolz auf ihr gastronomisches Erbe sind, dürfte es dennoch einige Momente der Entzauberung geben: „Brot mit Tomaten und Olivenöl sind ja hier geradezu etwas Heiliges. Aber die Tomate gelangte erst im 16. Jahrhundert nach Spanien und somit nach Mallorca, das ist noch gar nicht lange her“, sagt Tur.

Genauso verhält es sich mit der Paprika, unabdingbar für Klassiker wie den Sommersalat trempó (das Öl und Salz dazu brachten die Punier vor 2.000 Jahren mit) oder in Pulverform als Farbstoff der Sobrassada. „Wer kann hier schon verstehen, dass etwas so Mallorquinisches wie die Sobrassada etwas so Neues in der Geschichte ist?“, so der Autor. Immerhin: Wurstwaren an sich seien schon seit den Römern bekannt.

In den verschiedenen Kapiteln geht Tur der Frage nach, welche Kulturen bestimmte Nahrungsmittel einführten und die Speisegewohnheiten beeinflussten. Phönizier und Karthager hätten etwa neue Konservierungsmethoden etabliert: „Sie brachten uns bei, wie man Lebensmittel pökelt, dörrt und einlegt“, erklärt Tur. „Mit den Römern verfeinerte sich die Küche, etwa durch Gewürze wie Pfeffer und Nelken und verschiedene Brotsorten.“ Die Byzantiner lehrten die Inselbewohner, am Tisch zu essen, die Mauren brachten einen großen Entwicklungssprung beim Anbau von Obst und Gemüse. „Der jüdischen Kultur haben wir die empanadas und albóndigas zu verdanken“, beantwortet der Ernährungswissenschaftler seine eingangs gestellte Frage.

Mit der Reconquista hielt die christlich-mittelalterliche Esskultur Einzug, viele kulinarische Errungenschaften gingen verloren. Ein weiterer Aspekt dieser Epoche sind die Klassenunterschiede: „Die Mächtigen aßen Fleisch, während sich die anderen mit Brot und mit dem begnügten, was die Erde hervorbrachte.“ Was die Inselküche vom Rest des Mittelmeerraums unterschied, waren weniger einzelne Lebensmittel als vielmehr charakteristische Kombinationen: „Das kommt, weil unsere Jahreszeiten kürzer oder länger ausfallen als etwa auf dem spanischen Festland.“

Die Reichen aßen ungesund

Und wie gesund ernährten sich die Mallorquiner im Laufe der Jahrhunderte? Tur betont, dass erst einmal sichergestellt sein musste, dass niemand hungerte. „Erst im zweiten Schritt kann man überhaupt darüber nachdenken, mit welchen Nahrungsmitteln man seinen Hunger stillt.“ Während die Reichen es mit dem Fleisch übertrieben und Gicht bekommen hätten, wurzele die traditionelle mediterrane Diät im schlichten Speiseplan der armen Landbevölkerung: „Sie steht auf zwei Säulen: Bescheidenheit und Vielfalt.“

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Ein perfektes Beispiel dafür sei die sopa mallorquina – aus altem Brot, dem Gemüse, das gerade vorhanden war, Fleisch, wenn es denn welches gab, und mit einem Hauch sobrassada für den Geschmack. „Das Brot war kein Weißbrot, sondern reich an Ballaststoffen, genau wie das Gemüse. Das Gericht ist zwar ein Armenessen und kalorienarm, aber zugleich sehr sättigend.“

Während Rezepte wie dieses bis heute erhalten sind, gibt es auch solche, die nur zu einem bestimmten Moment in der Geschichte mundeten, wie etwa Kaninchenföten oder die fischige Würzsoße Garum. „Die Römer hätten aber für diesen Genuss gemordet“, schwört Tur.