So mancher deutscher Besucher einer mallorquinischen Christmette dürfte zunächst verdutzt sein, wenn plötzlich der gregorianische Gesang einer jungen Frau ertönt, die mit einem Schwert in der Hand vor dem Altar steht. Sie besingt noch dazu den Weltuntergang und die Wiederkehr des Erlösers. Acht Strophen braucht es, um das Ende der Welt anzukündigen. Sie handeln unter anderem vom Jüngsten Gericht, dem Antichristen und dem Tod jeglichen irdischen Lebens. Meere, Quellen und Flüsse sollen in Flammen aufgehen und die Sonne verdunkelt sich, heißt es in einigen Versen. Was sich für Nichtinsulaner zunächst kurios anhören mag, ist für die Mallorquiner ein alljährlicher Brauch. Ohne den ebenso schönen wie düsteren Gesang wäre das mallorquinische Weihnachten unvollständig.

Der Cant de la Sibil.la hat eine jahrhundertelange Tradition. Der Gesang geht auf das Jahr 999 zurück, als kollektive Weltuntergangspanik herrschte. Damals wähnte man das Jüngste Gericht aufgrund der bevorstehenden Zeitenwende nahe. Da Kirchen zu der Zeit nicht nur einen Ort für Messen, sondern auch für Theaterstücke boten, traten im Jahr 999 Propheten auf, die dort ihre Vorhersagen zum Besten gaben. Den Höhepunkt der Propheten-Show stellte Sibylle von Erythrai dar, einer antiken griechischen Stadt. Die von ihr beschriebene Zukunft war die dunkelste und glich einer Apokalypse.

Den Kirchenoberen wurden diese Prophezeiungen zu viel, und sie verboten die Aufführungen der Weissager. Allerdings wurde der populärste Part, die Sibylle, an wichtigen Feiertagen in die Messe integriert. Mit der Zeit beschränkten sich die Auftritte der Sibylle jedoch auf die Weihnachtsmesse. Die Kirche vermutete die apokalyptischen Vorhersagen dort gut aufgehoben, denn so erschien die Geburt des Erlösers als umso notwendiger.

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Nach Mallorca war die Tradition im Jahr 1229 mit den katalanischen Eroberern gekommen. Der Vatikan setzte zwar einiges daran, den im Grunde heidnischen Brauch auszurotten, doch die Mallorquiner widersetzten sich dem päpstlichen Willen. Auf dem spanischen Festland ist die Tradition denn auch nicht mehr existent. Dort wurde das Sibyllenlied 1899 zum letzten Mal während einer Messe in Toledo aufgeführt. Auf der Insel hingegen hält sich der „Cant de la Sibil.la“ bis heute. Die Unesco ernannte den Sibyllengesang 2010 sogar zum immateriellen Weltkulturerbe.

Alle Christmettten, in denen man den Gesang hören kann, finden Sie unter: agenciabaleria.bisbatdemallorca.org sowie weitere Informationen unter bisbatdemallorca.com