Man stelle sich vor, ein Transporter von Amazon kommt niemals bei den Adressaten der Lieferung an, sondern geht auf dem Weg mitsamt seinen Paketen verloren und bleibt verschollen. Er überdauert an einem geschützten Ort rund 1.700 Jahre, bis das Fahrzeug zufällig gefunden wird. Forscher der Zukunft ziehen ihre Schlüsse, über den Inhalt der Pakete, über das Packmaterial, über Adressaten und Empfänger, über das Versandsystem.

Der Transporter, das ist in unserem Fall ein römisches Schiff, das im September 2019 in nur rund zwei Meter Tiefe an der Playa de Palma entdeckt wurde. An Bord: rund 300 Amphoren, viele von ihnen noch ganz und sogar verschlossen. Erstaunlich gut erhalten sind auch einige Beschriftungen der Amphoren. Und erhalten sind auch Reste von Zweigen unter und zwischen den Amphoren, mit denen die zerbrechliche Lieferung geschützt wurde, „so ähnlich wie heute Luftpolsterfolie“, sagt Enrique García Riaza, Historiker an der Balearen-Universität (UIB) und einer von mehreren Direktoren des Forschungsprojekts, das sich derzeit mit dem Sensationsfund aus dem 4. Jahrhundert nach Christus beschäftigt. Insgesamt drei Dutzend Experten sind mit der Auswertung beschäftigt, ein auf drei Jahre angelegtes, von Inselrat und Landesregierung finanziertes Projekt, das Arqueomallornauta getauft wurde.

Von einer Sensation kann man sprechen, weil nur wenige Funde aus dieser Zeit vergleichbar gut erhalten sind – die Forscher des Projekts überbieten sich regelrecht mit Superlativen. Offenbar war das rund zwölf Meter lange und sechs Meter breite Wrack vor der Küste von Can Pastilla über Jahrhunderte zumeist von Sand bedeckt und auf diese Weise bestens geschützt gewesen. Auch dass Reste des Inhalts der zum Teil noch verschlossenen Amphoren und deren Beschriftung konserviert sind, gilt als außerordentlich.

Und so ist nun eine ganze Schar von Experten auf die Auswertung und Analyse der Funde angesetzt – jetzt, nachdem der gesamte Inhalt des Bootes in einer mehrmonatigen Aktion vom Sand befreit und mit Unterstützung von Hafenverwaltung, Marine sowie Guardia-Civil-Tauchern vom Meeresgrund geborgen werden konnte. Wenn der Zeitplan eingehalten wird, werden die Exponate voraussichtlich kommendes Jahr zusammen mit dem neuesten Forschungsstand in einer Ausstellung im Museu de Mallorca der Öffentlichkeit präsentiert.

Einige der geborgenen Amphoren weisen eine bislang unbekannte Form auf (DSF-002) und wurden nach dem Feuchtgebiet am Fundort benannt, Ses Fontanelles. | FOTO: GUILLEM BOSCH/ ARQUEOMALLORNAUTA

Christen und Heiden

Die bisherigen Erkenntnisse sind noch vorläufig. Es gibt zwar erste Antworten, aber auch noch viele Fragezeichen. Zu den neuesten Entdeckungen gehören beispielsweise Symbole eines Christusmonogramms sowie der römischen Göttin Diana. Das christliche Emblem, geformt aus zwei griechischen Buchstaben, findet sich als eine Art Siegel aus Terrakotta auf einer der Amphoren. Die Abbildung der Göttin prangte dagegen auf einer römischen Öllampe der Schiffsbesatzung. Christliche Auftraggeber, heidnische Kuriere? „Wir haben es zu tun mit einer Zeit des Übergangs vom Paganismus zum Christentum“, erklärt Forscher García Riaza, „beide Bewegungen existierten über Jahrhunderte nebeneinander.“

Auf einem gefundenen Siegel prangt ein Christusmonogramm. FOTOS: | ARQUEOMALLORNAUTA/GUILLEM BOSCH

Gespannt sein darf man insbesondere auf die Auswertung der Fracht, eine Aufgabe, die Wissenschaftler an den Universitäten von Barcelona und Cádiz übernehmen. Einige Amphoren enthielten Olivenöl – oleum dulce –, einige Wein, einige fermentierte Fischsauce und zwar eine Premiumversion dieses römischen Standardgewürzes, wie die lateinische Aufschrift der Gefäße verrät: flor de liquamen. In weiteren Amphoren fanden sich Reste von defrutum oder sapa – unvergorenem, eingekochtem Traubenmost, mit dem wohl Früchte konserviert werden sollten. „Aus den chemischen Analysen werden wir Unmengen von Information erhalten“, so García Riaza. Sogar Reste von Pollen an den Innenwänden der Amphoren sollen analysiert werden. In Kombination mit überlieferten Rezepten der Antike dürfte sich das damalige Essen detailgetreu rekonstruieren und sogar nachkochen lassen.

Die jahrhundertelang vom Sand bedeckten Amphoren waren zum Teil noch verschlossen. FOTOS: ARQUEOMALLORNAUTA/GUILLEM BOSCH

Einige der Amphoren weisen eine bauchige Form auf, die von bisherigen Funden unbekannt ist – diese Ausprägung trägt nun den Namen des Feuchtgebiets an der Küste des mallorquinischen Fundorts, „Ses Fontanelles 1“.

Aus dem Wrack wurden noch zahlreiche weitere Objekte sichergestellt. Beispielsweise ein Fiedelbohrer, der bei Schiffsreparaturen zum Einsatz kam: In eine von einem bogenförmigen Holzstück gespannte Sehne wird ein Schaft eingespannt, der dann beim Bewegen des Bogens rotiert. Es ist laut den Forschern eines der wenigen weltweit erhaltenen Werkzeuge dieser Art und der erste derartige Fund in Spanien. Hinzu kommen Taue, Schuhe aus Leder und Espartogras sowie organische Reste unterschiedlicher Natur.

Lässt sich das Wrack heben?

Auch das Boot soll nach dem Willen des Inselrats, dem die Zuständigkeit für den Denkmalschutz zufällt, gehoben, konserviert und ausgestellt werden. Zum einen droht es Schaden zu nehmen, da es mit einer Entfernung von nur rund 60 Metern von der Küste in einem Bereich liegt, wo sich die Wellen brechen. Zum anderen werden Plünderungen befürchtet: Ses Fontanelles ist der westliche Teil der im Sommer stark bevölkerten Playa de Palma.

Die jahrhundertelang vom Sand bedeckten Amphoren waren zum Teil noch verschlossen. FOTOS: ARQUEOMALLORNAUTA/GUILLEM BOSCH

Zunächst aber müssen noch Berichte von Archäologen und Konservatoren über die Risiken einer Bergung abgewartet werden. Die vergangenen Jahrhunderte jedenfalls hat die Holzkonstruktion erstaunlich unbeschadet überstanden. Besonders gut erhalten ist die Bilge, wie der unterste Raum eines Schiffs direkt oberhalb der Planken genannt wird. Die Forscher hoffen nun auf neue Erkenntnisse zum Schiffsbau in der Spätantike.

Die jahrhundertelang vom Sand bedeckten Amphoren waren zum Teil noch verschlossen. FOTOS: ARQUEOMALLORNAUTA/GUILLEM BOSCH

García Riaza und seinen Kollegen von der Forschungsgruppe Civitas an der UIB fällt die Aufgabe zu, die historischen Umstände zu untersuchen. Dazu gehören die Inschriften der Amphoren. Diese aufgemalten tituli picti sollen nicht nur über den Inhalt, sondern auch über Lieferanten und Kunden Aufschluss geben. Schon damals hatten sich Händler in Kompanien zusammengeschlossen.

Zeitkapsel vor der Playa

Die Route der Händler

Und dann wären da die Handelsroute und die Umstände des Schiffbruchs vor Mallorcas Küste. Fest steht: Das Boot mit seinen wohl fünf oder sechs Besatzungsmitgliedern hatte in Carthago Spartaria abgelegt, also in der Gegend des heutigen Cartagena an der Küste von Murcia. Sein Ziel dürfte Rom gewesen sein, damals gewichtiger Konsument von Importwaren. Mallorca war nicht nur eine strategische Station im Netz der Handelsrouten, sondern auch Zielort zahlreicher Lieferungen, wie García Riaza erklärt. Zwar finden sich so einige Wracks vor Mallorcas Küste, gerade im Gebiet von Cabrera. Aus der Zeit der Spätantike jedoch sind die Funde spärlich. Das nun gefundene Wrack gilt denn auch als das erste römische Schiff mit Herkunft Cartagena.

Ebenfalls vor Ses Fontanelles wurde jetzt ein römischer Anker geborgen, auch er stammt aus dem 4. Jahrhundert. Der Anker war schon vor mehreren Monaten entdeckt worden. Taucher der Guardia Civil hatten ihn zunächst an einem sicheren Ort am Meeresboden versteckt, bis er gehoben werden konnte.