Einmal war Helge Timmerberg schon hier, nun stehen auf Mallorca eine nachgeholte Feier zu seinem 70. Geburtstag und eine Lesung an (s.u.). Und schon bald könnte er ganz oder zumindest halb nach Palma ziehen: Der im hessischen Dorfitter geborene und in Bad Oeynhausen aufgewachsene Reporter hat nach vielen Stationen in aller Welt Gefallen an Mallorca gefunden.

Helge Timmerberg war einer der Ersten, der in Deutschland den sogenannten New Journalism und dessen radikal subjektive Reportagen für sich entdeckte. Er schrieb für so gut wie alle bekannten deutschen Magazine große Geschichten aus aller Welt und lebte längere Zeit in Städten wie Havanna und Marrakesch. Seit Anfang der Tausender schreibt er vor allem Bücher (etwa „Tiger fressen keine Yogis“, „Der Jesus vom Sexshop“, „Die rote Olivetti“). Timmerberg, der aktuell zwischen St. Gallen in der Schweiz und Wien lebt und arbeitet, bittet darum, das Interview schriftlich zu führen, um präziser formulieren zu können. So wandern Fragen, Rückfragen und Antworten per WhatsApp und E-Mail hin und her.

Ihr Freund und Kollege Axel Thorer pflegt zu sagen, dass man Mallorca erst wirklich schätzen kann, wenn man über 50 ist. Warum hat es bei Ihnen so lange gedauert?

Ich bin halt ein Spätzünder. Außerdem heißt es ja, dass 70 das neue 50 ist.

Wie man hört, suchen Sie bereits eine Wohnung in Palma. Gelegenheit zu einer kostenlosen Anzeige: Wie soll sie aussehen?

Das „Heraus-sehen“ ist mir wichtig. Auf eine Palme, zum Beispiel. Sie war immer der Baum meiner Träume. Und wenn irgendwo noch ein Fetzen vom Meer zu sehen wär, und darüber die Sterne ... sehr gerne.

„Je länger ich von Deutschland flüchte, desto deutscher werde ich“, haben Sie einmal geschrieben („Auf der Flucht“). Ist Mallorca da die logische Konsequenz? Glauben Sie, dass Sie hier „ankommen“ könnten?

Was Mallorca insgesamt angeht, weiß ich das noch nicht. Aber bei Palma bin ich mir ziemlich sicher. Es ist nur ein Bauchgefühl, aber das war es immer. Die Altstadt ist von den Mauren inspiriert, und das Viertel, in dem mein Hotel war, kam mir fast ein bisschen kubanisch vor, was das Leben auf den Straßen angeht. Im Hotel ein Latino-Laden mit durchgängig Salsa, links daneben der Inder, rechts die Iren, gegenüber eine polnische Musikkneipe und ein afrikanisches Restaurant, und so geht es die Straße auf und ab weiter.

"Lebenswerte Langeweile auf den Balearen ist vielleicht etwas anderes als langweiliger Lebenswert am Bodensee."

Sie waren erst einmal auf Mallorca, heißt es. Fassen Sie uns Ihre Eindrücke in ein paar Helge-Timmerberg-Sätzen zusammen.

Wer einen Esel braucht, kriegt einen Esel. Wer kein Englisch kann, ist besser dran. Und wer im Winter woanders ist, hat auf der Insel alles richtig gemacht.

Muss ich das jetzt verstehen?

Entschuldigung, manchmal geht die Verdichtung mit mir durch. Ich erklär’s mal von hinten. Rund ums Mittelmeer sind im Winter die Tage zwar wärmer als im Norden, aber die Abende kälter, weil es an soliden Heizungen mangelt. Zur Kommunikation: Meine ukrainische Freundin spricht kaum Englisch, aber Deutsch beherrscht sie tadellos. Und damit ist man auf Mallorca besser dran als zum Beispiel in Italien. Ja, und die Esel. Ich mag sie , weil ich so schwerhörig bin, dass ich ihr Blöken am Morgen nicht hörte. Lara, die sehr gute Ohren hat, fand dagegen ihr frühes „Iah“ ziemlich frech.

Lesung im Weingut Macià Batle in Santa Maria

Das Inselradio und die „Mayers & Friends – die Sonntagsshow“ präsentieren Helge Timmerberg am Freitag, 6. Mai, in der Bodega Macià Batle in Santa Maria del Cami. Um 19 Uhr geht es los. Die Tickets gibt es zum Preis von 20 Euro ab sofort im Inselradio in Palma im Carrer Federico García Lorca, 2 zu den üblichen Geschäftszeiten.

In mehreren Ihrer Reportagen haben Sie ein wenig die Nase gerümpft über die „normalen“ Touristen. Damit haben Sie kein Problem mehr?

Man ist als junger Mensch halt gern mal ein bisschen elitär. Das Alter hat mich toleranter gemacht. Dafür bin ich dankbar.

Helfen Sie uns: Auf dieser Insel ist, journalistisch gesehen, für die deutsche Leserschaft schon so gut wie jeder Stein umgedreht worden. Trotzdem müssen meine Redaktion und ich jede Woche ein Heft füllen. Was raten Sie uns?

Das wird auf Mallorca wahrscheinlich nicht anders als im Rest der Welt sein. Jeder Tag erzählt neue Geschichten.

Würden Sie es sich denn zutrauen, Mallorca neu zu erzählen?

Ja.

"Ich bin alt, ich bin weiß, ich bin ein Mann, und meine Privilegien habe ich mir verdient. Das Privileg der Jungen ist der Ozean an Leben, der noch vor ihnen liegt. Unverdient. Der ist ein Geschenk."

„Langweilig, aber lebenswert“, sagen Sie über Ihren gegenwärtigen Wohnort St. Gallen. Was stimmt Sie zuversichtlich, dass es hier anders ist?

Lebenswerte Langeweile auf den Balearen ist vielleicht etwas anderes als langweiliger Lebenswert am Bodensee. Außerdem spreche ich gern Spanisch.

Sie ziehen also definitiv nach Mallorca?

Definitiv weiß ich das erst, wenn ich dort einen Platz gefunden habe, der mir gefällt.

Erst einmal planen Sie eine Lesung, was erwartet uns Leser?

Möglich sind Amazonas, Kuba, Nord- Süd - und Zentralafrika, Nordkorea, Kurdistan und Himalaja, also Geschichten aus aller Welt, aber keine aus Mallorca.

Dabei handelt Ihr neues Buch, „Lecko mio“, vom Altern. Geben Sie uns eine Kostprobe in drei, vier Sätzen?

Ich bin alt, ich bin weiß, ich bin ein Mann, und meine Privilegien habe ich mir verdient. Das Privileg der Jungen ist der Ozean an Leben, der noch vor ihnen liegt. Unverdient. Der ist ein Geschenk.

Timmerbergs aktuelles Buch: "Lecko mio. Siebzig werden", Piper Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.

Timmerbergs aktuelles Buch: "Lecko mio. Siebzig werden", Piper Verlag, 192 Seiten, 20 Euro. Piper Verlag

Sie sind viel herumgekommen und haben über das, was Sie gesehen haben, großartige Geschichten erzählt. Wie groß ist die Versuchung, sie auch mal auszuschmücken und hier und da ein wenig zu übertreiben? Wäre das legitim?

In die Versuchung bin ich nie gekommen, weil in der Realität einfach immer zu viel los war.

Hätten denn all Ihre Geschichten den Fact-Checkern, sagen wir jetzt mal nicht des „Spiegel“, sondern des dafür ebenfalls berühmten „New Yorker“ standgehalten?

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole. Mein Leben war zu bewegt, zu verrückt und zu bunt, um irgendetwas dazu erfinden zu müssen.

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"Ich bin nun mal ein Mann und finde dass auch völlig o.k. Männer, die glauben, sich für ihr Geschlecht entschuldigen zu müssen, finde ich traurig."

Der „Spiegel“-Reporter Claas Relotius und andere Kollegen haben mit frei erfundenen Geschichten das Genre Reportage schwer beschädigt, heißt es. Was meinen Sie dazu?

Spinner hat es immer gegeben und wird es wohl auch immer geben. Das Genre wird’s überleben.

Ich wage zu bezweifeln, dass einige Ihrer frühen, sehr stark aus männlicher Sicht erzählten Geschichten heute, nach #MeToo, noch so in den großen Medien veröffentlicht würden, oder sehe ich das falsch?

Lecko mio, oder? Ich schreib ja eigentlich nur noch Bücher und da kann ich machen, was ich will. Außerdem: Aus welcher Sicht soll ich denn erzählen? Ich bin nun mal ein Mann und finde dass auch völlig o.k. Männer, die glauben, sich für ihr Geschlecht entschuldigen zu müssen, finde ich traurig.

Ganz anderes Thema, aber interessant: Eine Ihrer bekanntesten Reportagen handelt von einem Pestausbruch in Indien. „Die Bazillen haben die Krankheit gebracht, die Journalisten haben die Panik gemacht“, heißt es darin. Wie haben Sie Corona erlebt? Sehen Sie Parallelen?

In der Pandemie ist der Journalismus gesundet. Das alte Lied. Schlechte Nachrichten verkaufen sich besser als gute. Aber umgekehrt hat er auch einen wichtigen Job gemacht. Denn zur Vorsicht zu raten, war mit Sicherheit keine Fehleinschätzung der Lage.

Reporter ist der beste Beruf der Welt, sagte einmal Gabriel García Márquez. Würden Sie ihn heute, in diesem Medienumfeld, noch einmal wählen?

Je länger ich darüber nachdenke, desto kürzer werden die Antworten, und am Ende steht ein „Jein“.