Es war einmal ein Schatz, der im Archiv schlummerte. Bis eine Wissenschaftlerin beherzt loszog, um ihn zu heben: Caterina Valriu (61), Dozentin an der Balearen-Uni für katalanische Philologie und Spezialistin für Erzählungen von der Insel, hat zu 115 Märchen geforscht, die es dereinst nicht in die Märchensammlung geschafft hatten, die Erzherzog Ludwig Salvator auf Mallorquinisch und auf Deutsch veröffentlichte.

„Die Ursprungsidee des Erzherzogs war, eine Anthologie der Märchen von Mallorca herauszubringen“, sagt Valriu im Gespräch mit der MZ. Also habe er seinen „Sammler“ Antoni Maria Penya, den Sohn des mallorquinischen Intellektuellen Pere d’Alcàntara Penya, gebeten, auf der ganzen Insel Material zusammenzutragen – je mehr, desto besser.

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen

Penya überreichte insgesamt 169 Märchen in zwei „Lieferungen“. „Ludwig Salvator traf daraufhin die Auswahl: dieses nehmen wir, jenes nicht.“ Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen – frei nach Aschenputtel. So kamen 54 Märchen zusammen, die im Jahr 1895 erstmals publiziert wurden.

Valriu vermutet, dass der Erzherzog nach dem rigorosen Aussieben noch ein zweites Buch im Sinn gehabt haben könnte. „Doch in dem Jahr, nachdem er seine rondalles veröffentlicht hatte, begann Antoni Maria Alcover Sureda, seine eigene Sammlung zu publizieren. Sie sollte so umfangreich werden wie die der Gebrüder Grimm.“ Alcover, der große Märchen-Sammler von Mallorca, war zwar ein wenig später dran als der Erzherzog, stahl diesem aber die Schau.

Ludwig Salvator wandte sich anderen Themen zu – die 115 übrigen Erzählungen blieben unveröffentlicht. Seine Erben horteten das Material, bis einer von ihnen den Wert erkannte, die Dokumente aus ihrem Dornröschenschlaf holte und der Wissenschaft zugänglich machte. Zuerst kamen die verschmähten Märchen ins Archiv von Valldemossa, später ins Archiv des Inselrats.

Als Valriu davon erfuhr, stieß sie nicht nur auf einen Schatz, sondern auf ihr neues Forschungsthema. Vor rund vier Jahren legte sie los. „Als ich schon etwa ein Jahr dabei war, hatte ich eines Morgens eine Erleuchtung und dachte: Ich könnte eigentlich eine Doktorarbeit darüber schreiben.“

Valriu hat bereits einen Doktor in Katalanischer Philologie. „Es ist ziemlich merkwürdig, dass jemand eine zweite Doktorarbeit schreibt“, räumt sie ein. „Aber mir machte die Idee einfach Freude.“ So promovierte sie erneut an der Universität von Barcelona, diesmal in Anthropologie. Eine verkürzte Fassung dieser Arbeit, die alle 169 Märchen umfasst – die alten und die neu entdeckten – ist im April unter dem Titel „Les rondalles que l’Arxiduc no va publicar“ (Galés Edicions) erschienen. Valriu bekam dafür den Literaturpreis Premi Mallorca.

Absurde Wünsche des Erzherzogs

Neben der Märchenlektüre erfährt der Leser Wissenswertes über Feldforschung im 19. Jahrhundert, die Entstehung der Sammlung und die Rolle des Erzherzogs. Valriu liegt es besonders am Herzen, Antoni Maria Penya die Aufmerksamkeit zu zollen, die er verdient: „Im Vorwort erwähnt der Erzherzog Penya so nebenbei, dass der Leser gar nicht versteht, was genau seine Leistung war – er hat die eigentliche Arbeit verrichtet.“ Dabei bezieht sich Valriu wohlgemerkt auf die später erschienene Übersetzung des Vorwortes ins Katalanische von Mateu Grimalt. Aus der deutschen Fassung geht klarer hervor, dass Penya nach den Angaben des Erzherzogs sammelte.

Penya habe seine Aufgabe 1894 in nur vier Monaten bewerkstelligt – und das ohne Auto. In Briefen schilderte er seinem Auftraggeber Zweifel und Probleme, zum Beispiel, dass ihm das Geld ausging. „Was ich bislang nicht finden konnte, sind die Antworten des Erzherzogs“, so Valriu. „Mein ‚Stein der Weisen‘ war ein fast unleserliches Schmierpapier, in dem er Penya erklärte, wie er seine Arbeit machen soll.“

Der Habsburger wollte demnach echte, „authentische“ Märchen von Mallorca haben. „Das ist aber etwas absurd, denn die Volkserzählungen sind universell“, betont die Universitätsdozentin. Die Handlung sei oft die gleiche, obwohl es von Land zu Land unterschiedliche Versionen gebe. Ludwig Salvator sei das jedoch nicht ganz klar gewesen. Ähnelte eine Geschichte zu sehr einem Grimm’schen Märchen, lehnte er sie ab: zu unmallorquinisch.

Die 54 rondalles, die es ins Buch des Erzherzogs schafften, waren jene, die ihm am inseltypischsten erschienen: Legenden oder Geschichten mit historischen Hintergründen wie Piratenangriffen. Davon gab es viele an der Küste von Artà, weshalb Penya dort besonders fündig wurde.

Ansonsten sei er bei der Suche nicht sehr systematisch vorgegangen: In Palma und Felanitx hatte er Freunde und Familie und sammelte viel Material, dafür ließ er die Inselmitte fast ganz aus. „Er behauptete, dass er dort nur Geschichten gefunden habe, die zu kurz, obszön oder geschmacklos waren“, sagt Valriu.

Papageien und dumme Riesen

Mit ihrer Arbeit leistete die Expertin einen wertvollen Beitrag für den „Índex Tipològic de la Rondalla Catalana“, in dem Folkloristen die rondalles katalogisieren. Bei den „neuen“ Märchen stieß sie auf 16 Arten von Erzählungen, die nie zuvor auf Katalanisch dokumentiert worden waren. Dabei handelt es sich um Motive wie den sprechenden Papagei, den dummen Riesen oder Gott, der in einem religiösen Märchen eine böse Frau bestraft. Auch humorvolle Erzählungen über unangemessenes Verhalten in der Kirche kamen Penya zu Ohren.

Das Repertoire an Märchenfiguren ist laut Valriu mehr oder weniger das gleiche wie bei Alcover: Hexen, „Wasserfrauen“ und Drachen tummeln sich hier wie dort. „Ein originelles und recht eigenes Element dieser Geschichten ist, dass oft etwas auftaucht, das Angst macht, das aber keine konkrete Form besitzt“, sagt die Philologin. „Manchmal ist es ein Licht, manchmal auch ein Geräusch.“

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Ansonsten fänden sich viele Variationen bekannter Märchen unter den Erzählungen, zum Beispiel ein mallorquinisches Aschenputtel oder Stadtmusikanten aus Campanet. Letztere haben weniger Glück als ihre Verwandten aus Bremen: Der Hahn wird am Ende von den Räubern gebraten.

Unter den Geschichten ist auch eine Abwandlung von Alcovers „Hexe Joana“, in der ebenfalls zwei Bucklige vorkommen sowie Hexen, die bei der Aufzählung der Wochentage den Sonntag vergessen. „Doch diese Versionen sind sehr unterschiedlich“, sagt Valriu. „Zudem spielt die eine in Palma, während die andere in Inca angesiedelt ist.“ Logisch, dass in der Fassung aus der Schuster-Hochburg die Protagonisten keine Kinder sind, sondern Schuhmacher. Hier können Sie dieses Märchen erstmals in deutscher Übersetzung lesen.