Als die Redakteurin das helle Wohnzimmer von Maria Esteva Pascual betritt, ist die Hausherrin gerade in die Lektüre der MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca“ vertieft. Eine weitere spanische Inselzeitung liegt auf dem Tischchen vor ihr sowie auch ein überregionales Blatt. Die Seniorin will informiert sein, jeden Tag. Auf einem Stuhl neben sich hat sie ein Kistchen mit Häkelzeug. Langeweile gibt es nicht. 106 Jahre ist Esteva alt, älter als alle anderen Bewohner ihrer Heimat Capdepera.

Ihren Arzt sieht sie nicht häufiger als den Bürgermeister. Der kommt seit ihrem 100. Geburtstag einmal pro Jahr vorbei und bringt einen Blumengruß. „Ich bin nie krank, und war es auch nie“, sagt die alte Dame. Ihr starker mallorquinischer Akzent ist angenehm, ihr munterer Blick ansteckend.

Seit einem halben Jahr im Rollstuhl

Bis vor zwei Monaten sei sie noch ohne Gehhilfe im Haus herumgelaufen, einmal pro Woche auswärts essen gegangen und habe teilweise sogar ihre Wäsche selbst gewaschen, berichtet sie. „Bis vor einem halben Jahr, aber schön, dass es dir kürzer vorkommt“, korrigiert ihr 74-jähriger Sohn Toni liebevoll. Sie nickt, winkt ab. „Ja“, sagt sie. „Jetzt sitze ich im Rollstuhl und werde wohl nie mehr ausgehen.“

Aber das sei auch in Ordnung so, nach mehr als 105 Jahren. Die Knie seien das Einzige, das nicht mehr funktioniere. „Und mein Gehör“, ruft sie. Ohne dieses kleine Handicap könnte man problemlos über alles mit ihr plaudern – Maria Esteva, in Capdepera unter ihrem Spitznamen „Pil∙lita“ bekannt, ist im Kopf so klar wie die Luft auf der großen Sonnenterrasse, auf der sie am liebsten sitzt.

Maria Esteva Pascual mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter auf der Sonnenterrasse ihres Hauses bei Cala Ratjada Sophie Mono

Einen Premiumplatz hat sie hier, mit beeindruckendem Panoramablick über das Meer bei Cala Ratjada. „An diesem Ort lässt es sich gut so lange leben“, spricht ihr Sohn Toni das Offensichtliche aus. Im Falle von Esteva sind es bereits 40 Jahre in dem Haus in der Villengegend um Cala Provençals. Seit ihr Mann damals in Rente ging und die Immobilie erwarb. „Er hat sich vom Laufburschen zum Bankdirektor hochgearbeitet“, betont Esteva stolz.

Ja, ihr Paulino Alzina sei ihre große Liebe gewesen. Am 2. April 1916 sei er in Capdepera zur Welt gekommen. Vier Tage vor seiner späteren Frau. „Die Hebamme ging direkt von seinem zu unserem Haus, es lag keine Geburt dazwischen“, erzählt Esteva. 21 Jahre ist Paulino mittlerweile tot. „Ich wollte nie, dass er mich so lange allein lässt. Aber er ist auch 85 Jahre alt geworden, da kann man ihm nichts vorwerfen“, sagt sie.

Omega-3 als Lebensgarant

Seit 1931 waren die beiden ein Paar, sie bandelten mit 15 Jahren an. In einem Capdepera, in dem es in ihrer Kindheit anfangs nicht einmal Autos und kein elektrisches Licht gab, in dem die Straßen ungeteert, viele Fenster ohne Verglasung und der Hunger während des Bürgerkriegs groß waren. „Aber meine Geschwister und ich, wir hatten Glück. Mein Vater hat immer Fisch aufgetrieben“, sagt Esteva. Er habe eine Ziegelei gehabt, in der Nähe des heutigen Lidl-Supermarkts. In seiner Freizeit aber sei er immer Fischen gewesen. „Vielleicht ist das viele Omega-3 der Fische ja das Geheimnis eures langen Lebens“, scherzt Sohn Toni. Auch Estevas drei Geschwister wurden alle älter als 94 Jahre. Ihr kleiner Bruder lebt noch, ist 98. Bis vor zwei Jahren besuchte er sie regelmäßig mit seinem Motorrad.

„Ich hatte ein langes, aber ruhiges Leben“, sagt Esteva. Diesen Satz wiederholt sie oft. Dabei gab es durchaus Rückschläge in all dieser Zeit. Als Esteva zehn Jahre alt war, starb ihre Mutter an Tuberkulose. „Nur dank unseres Dorfarztes wurde niemand anderes aus der Familie angesteckt.“ Ihre Oma, die selbst 13 Kinder großgezogen hatte, wurde zum Mutterersatz. Bis zum 15. Geburtstag ging Esteva in die Mädchenschule in Capdepera, dort, wo später das Rathaus untergebracht war und sich jetzt das Gemeindearchiv befindet. Nebenbei wurden Palmzweige geflochten – das traditionelle Frauenhandwerk aus der Region. Anfangs noch im Licht von Öllampen. „Wir mussten alle mithelfen, um über die Runden zu kommen“, sagt Esteva.

Flirten unter strenger Aufsicht

Nur sonntags war frei. Und das nutzte das Jungvolk zum Poussieren. „Da gingen wir jungen Mädchen mit unserem Liebsten spazieren“, erinnert sich Esteva. Von der Bar Can Pastilla aus, die noch immer existiert, bis zur Ortsgrenze in Richtung Cala Ratjada. Aber immer in Begleitung, „und wehe, man war außer Sichtweite der neugierigen Anwohner.“ Sieben Jahre musste ihr Verlobter für Franco Militärdienst leisten. „Wir schrieben uns viele Briefe. Aber der Schwiegervater zensierte sie alle.“ 1941 dann endlich die Hochzeit. Und der Umzug nach Palma. Ihr Gatte wollte in der Stadt beruflich Fuß fassen – und hatte Erfolg. Erst wohnten sie im Carrer Antoni Frontera, nahe dem Obelisken, dann beim Carrer Aragó, wo heute der Corte Inglés steht. „Damals war es nicht das Zentrum, gegenüber unserer Wohnung war eine Pferdekoppel“, so Esteva.

In Palma wurde gearbeitet, in Capdepera gelebt“, resümiert sie die folgenden Jahrzehnte. Jedes Wochenende machte sich das Paar auf in die alte Heimat, ab 1948 begleitet von Söhnchen Toni. „Wir waren so in Capdepera verwurzelt, dass selbst ich mich dort immer heimisch fühlte, obwohl ich den Großteil meines Lebens in Palma gelebt habe“, berichtet er. Kein Zufall also, dass er sich später in eine Frau aus dem Dorf seiner Eltern verliebte. Als seine Mutter hörte, woher Maria, die Auserwählte, stammt, sagte sie nur: „Aus Capdepera? Dann ist es gut.“ Selbst das Brennholz für den Holzofen in der Küche in Palma brachten sie anfangs von zu Hause mit in die Hauptstadt. Nur die Schmugglerware, die Tio Pepe – einer ihrer Schwager – immer wieder in die Stadtwohnung anschleppte, war Esteva dann doch zu viel. „Das waren andere Zeiten.“

Seit mittlerweile neun Jahren leben ihr Sohn und ihre Schwiegertochter mit in dem schönen Haus am Meer. Kontakt zu den Nachbarn – fast alles Deutsche – besteht kaum. „Auch ohne Corona leben wir hier isoliert“, sagt Sohn Toni. Wären da nicht die regelmäßigen Besuche von Estevas Nichten. Und von der Enkelin und deren kleinem Sohn. „Ja, es war ein ruhiges Leben“, sagt Esteva wieder. So ruhig, wie 106 Jahre eben sein können.