„Ich hätte nicht gedacht, dass ich so viel Zeit auf Mallorca verbringen würde. Ich mag die Menschen hier, das Klima, aber es schmerzt mich zu erkennen, dass man nicht in seine Heimat zurückkehren kann.“ Alla Perenesii ist vor vier Monaten vor dem Krieg in der Ukraine auf die Insel geflüchtet. Seitdem harrt sie hier aus. So, wie viele andere ihrer Landsleute. Längst sind die verklärten Emotionen des Ankommens verebbt, die Realität hat Einzug erhalten.

Auch die Kinderbetreuung ist für einige Ukrainierinnen bei der Jobsuche ein Problem. |

Alla Perenesii wohnt nicht mehr auf einer Finca bei Inca, wo sie die Deutsche Ali von Moltke aufgenommen hatte, sondern in Palmas Stadtteil Molinar, wo sie jetzt zusammen mit ihrer Tochter lebt. Die automatisch in ihre Muttersprache übersetzten Fragen der MZ beantwortet die 60-Jährige per WhatsApp. „Ich nähe und repariere Kleidung, aber jetzt ist meine Nähmaschine kaputtgegangen. Also schaue ich mir die Insel an und besuche viele schöne Orte.“ In Inca sei die Ukrainerin letztendlich zu isoliert gewesen, erzählt Ali von Moltke – auf dem Land und ohne Auto. Auf der Finca habe sich die Geflüchtete in den ersten Wochen zwar erst einmal fallen lassen können. Aber jetzt habe sie es sicherlich in Palma leichter, dort könne sie sich besser mit ihren Landsleuten vernetzen und eine Arbeit finden.

Einerseits ist die Situation nicht viel anders als im Frühjahr: Der Krieg in der Ukraine hält an, die Lage in den Kriegsgebieten ist gefährlich, und die geflüchteten Menschen sind auf die Solidarität der europäischen Nachbarländer angewiesen. Andererseits hat sich vieles in diesen vier Monaten geändert, im Großen wie im Kleinen. Statt des Kriegsgeschehens stehen in den Nachrichten Inflation, Energiekrise und Versorgungsengpässe im Vordergrund. Und die anfängliche Welle der Solidarität in der Bevölkerung ist einer neuen Stimmung gewichen, die sich nicht ganz einfach beschreiben lässt.

Noch immer sind viele Geflüchtete auf Kleiderspenden angewiesen. | FOTOS: B. RAMÓN

„Man ist ein bisschen in der Realität angekommen“, sagt eine Deutsche aus Santa Ponça, die eine dreiköpfige Familie aufgenommen und die Zeit der Unterbringung von Beginn an auf Anfang Juni begrenzt hatte – die Ferienwohnung wird jetzt wieder für andere Gäste benötigt. Die ukrainische Großmutter sei zu Verwandten auf der Insel umgezogen, Mutter und Tochter habe man geholfen, bei einer Frau in Palma zur Untermiete unterzukommen, bis Jahresende beteilige man sich an den Mietkosten. „Wir haben es gerne gemacht, aber es ist auch ein bisschen schwierig“, meint die 42-jährige Deutsche. Die Sprache sei eine beträchtliche Hürde und schon mal Grund für Missverständnisse. Und man müsse sich immer vor Augen halten, dass man es mit Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zu tun habe, mit ihrem Stolz und ihren eigenen Werten. Warum etwa kündigt die ukrainische Mutter einen Job, den zu finden man ihr geholfen hatte?

Erst Tränen, dann Versachlichung

Ganz ähnlich klingt eine Deutsche aus Bunyola, bei der weiterhin eine Ukrainerin mit ihrer Tochter lebt. „Am Anfang haben wir ganz viel geredet, aber dann hatten wir keine Lust mehr auf das Handy.“ Doch ohne den automatischen Übersetzer des Smartphones geht es eben nicht. Wo es am Anfang Mitleid und Tränen gab, habe sich die Situation versachlicht. So engagiert und hilfsbereit die Geflüchtete sei, so schwer sei es zu verstehen, dass sie bislang trotz ihrer Gastronomie-Kenntnisse und dem Arbeitskräftemangel auf der Insel keine Arbeit gefunden habe. Eine Rückkehr in die Heimat komme für die Frau derzeit nicht infrage, da die dortige Wohnung nach russischen Angriffen beschädigt sei. Ende September läuft die vereinbarte Frist zur Unterbringung bei der Deutschen in Bunyola ab, dann wird die Ukrainerin von der Gemeinde an eine andere Familie weitervermittelt.

Zumindest rechtlich wurde den Ukrainern der Weg zum Einleben auf der Insel geebnet. Auf Antrag erhalten sie sogenannte temporäre Hilfe – ein zunächst auf ein Jahr begrenztes Aufenthalts- und Arbeitsrecht. Sie werden in die staatliche Gesundheitsversorgung aufgenommen, die Kinder können eingeschult werden. Waren auf den Balearen im April rund 1.800 solcher Anträge von Ukrainern registriert, sind es inzwischen knapp 2.700. Die zuständige Vertretung der Zentralregierung auf den Inseln weist aber darauf hin, dass einige Antragsteller schon vorher hier lebten und nicht alle Geflüchteten den Antrag stellten.

Die Haushalte wiederum, die Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen, können finanzielle Hilfe von der Landesregierung erhalten, und zwar rückwirkend ab März. Der Beschluss vom Juni sieht 200 Euro pro Monat und Person vor, 300 Euro im Fall von zwei aufgenommenen Geflüchteten sowie 50 Euro mehr für jede weitere Person. Anträge können beim balearischen Sozialministerium gestellt werden (hier).

Unterkünfte für 246 Geflüchtete

Neben der Vermittlung in Gastfamilien gibt es mit dem Roten Kreuz auch eine staatlich beauftragte Hilfsorganisation auf den Balearen. Derzeit stehen drei offizielle Unterkünfte bereit, in denen ein mindestens einjähriger Aufenthalt garantiert ist – ein Hotel an der Playa de Palma, ein Bereich des Hospitals Sant Joan de Deu sowie Räumlichkeiten an der Schule La Salle. Das macht insgesamt 246 Plätze in dem staatlich geförderten Schutzprogramm. „Sie sind alle belegt“, sagt der Sprecher des Roten Kreuzes auf den Balearen, Javier Pozo.

Dennoch gebe es Fluktuation. Wöchentlich kehrten einige wenige Geflüchtete in ihre Heimat zurück, gleichzeitig kämen auch neue Leute auf Mallorca an, wenn auch deutlich weniger als noch vor zwei Monaten. Das seien vor allem Menschen, die bereits Familienangehörige auf der Insel haben. Das Rote Kreuz unterstützt die Bewohner durch Sprachkurse, juristischen und psychologischen Beistand und bei der Arbeitssuche. „Die Mehrheit plant, kurz- oder mittelfristig in die Heimat zurückzukehren“, so Pozo.

Damit rechnet inzwischen auch Paul Madden von der wohltätigen Organisation „U R Mallorca“. Eigentlich habe er gedacht, dass sich der überwiegende Teil hier auf der Insel integrieren werde, mittlerweile glaube er, das nur noch von zehn bis 15 Prozent. Viele seien bereits abgereist, einige in andere EU-Länder, die meisten zurück in die Heimat. Da sind die zurückgebliebenen Eltern oder Großeltern. Da sind die Jobs in der Ukraine, die nicht länger per Homeoffice möglich sind. Da sind die Sorgen um Wohnungen oder Geschäfte in der Heimat. Muss man die Miete weiterzahlen? Oder was passiert mit den Dingen, die sich in der Wohnung befinden?

Knackpunkt Integration

Viele Frauen stellen sich auch die Frage, ob sie ihre Männer und ihr Land nicht im Stich lassen, wenn sie so lange weg sind. Und „wenn die Soldaten an der Front eingesetzt werden, wird jeder Handy-Kontakt abgebrochen, damit die Truppen nicht geortet werden können“, berichtet ein Deutscher aus Palma, der eine Ukrainerin aufgenommen hat. Gerade bekam er von ihr ein Handy-Video gezeigt – zu sehen ein Brand, der nach einem Raketeneinschlag gegenüber ihrem Elternhaus ausgebrochen war. Häuser anderer Flüchtlinge wurden im Krieg komplett zerstört, wohin also zurückkehren? Und mit welchen Zukunftsperspektiven?

„Jetzt ist die härteste Phase, die berühmte Integration“, so die Deutsche in Bunyola. Und dafür müssten die Menschen in Arbeit kommen und auf eigenen Beinen stehen. Auch die Frage der Schulpflicht stellt die Geflüchteten vor eine Entscheidung. Bis Juni hatten die Kinder oft noch Online-Unterricht mit ihren über ganz Europa verteilten ukrainischen Schulklassen. Kurz vor den Schulferien auf den Balearen wurden sie dann in die Inselschulen integriert und können derzeit in der Regel kostenlos an den Sommerprogrammen teilnehmen.

Während einige Geflüchtete Ersparnisse, eine gute Ausbildung und inzwischen einen Job haben, sind andere weiterhin auf jede Hilfe angewiesen – auch weil sie aus unterschiedlichen Gründen durch das Raster der staatlichen Förderung fallen. Die Gemeinnützige Organisation „U R Mallorca“ gibt inzwischen wöchentlich im Zentrum von Palma Lebensmittel aus. Die Nachfrage habe zuletzt zugenommen, heißt es dort, gleichzeitig sinke aber das Volumen an Hilfsgütern.

Hilfe für die Bedürftigen

Das bestätigt auch Anastasia Kvach. Sie ist eine der Gründerinnen der Hilfsorganisation „Amar Ucraïna“ und gibt in einem Lokal in Palmas Stadtteil Son Rapinya Essen und Hygieneartikel an jene geflüchteten Ukrainer aus, die von den staatlichen Hilfsprogrammen nicht berücksichtigt werden, aber sehr wohl bedürftig sind. Wenn denn Güter da sind, die ausgegeben werden können. „Die Spenden sind nach der ersten Welle der Solidarität stark zurückgegangen. Immer mehr Geflüchtete befinden sich in komplizierten Situationen, vor allem alleinstehende Frauen mit Kindern“, sagt Kvach. „Es gibt Wochen, in denen wir den Menschen kaum noch etwas geben können. Und die Hilfsgüter, die kommen, sind vor allem von Hilfsorganisationen und nicht von Privatleuten.“ Die Schuld daran sieht Kvach in der medialen Berichterstattung. „Die Menschen scheinen es vergessen zu haben, aber der Krieg in der Ukraine geht weiter, und es kommen immer noch Menschen auf die Insel. In der Regel mehrere Familien pro Woche.

„Amar Ucraïna“ stellt für viele ukrainische Geflüchtete nicht nur eine materielle Unterstützung dar. Viele Frauen nutzen das Lokal auch als Treffpunkt. Um sich zu vernetzen, um zu reden, um sich gegenseitig beizustehen. „Gerade Frauen mit Kinder haben es nicht leicht bei der Jobsuche. Teilweise tun sich mehrere zusammen, eine passt auf die Kinder von allen auf und die anderen verdienen Geld“, berichtet Anastasia Kvach. Auch sie weiß von Fällen, in denen Geflüchtete Mallorca bereits wieder verlassen haben – sei es aufs spanische Festland oder tatsächlich zurück in die Heimat. Und dennoch steige die Anzahl der Hilfsbedürftigen, die sich bei „Amar Ucraïna“ melden. Aktuell seien rund 500 Personen registriert, „und jede Woche wird die Liste länger“, so Kvach. Schuld daran sei auch die Inflation. „Mallorca ist teuer, und es ist sehr schwierig, Wohnung, Lebensmittel und Nebenkosten zu bezahlen. Selbst wenn die Menschen eine Arbeit finden, sind die Gehälter oft prekär.

Besser in Palma als auf dem Dorf

Auch bei der Jobsuche unterstützt die Organisation. „Gerade für Ukrainer, die in Inseldörfern untergekommen sind, ist es schwer. Wenn es am öffentlichen Nahverkehr hapert, sind sie praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, da sie kein Auto haben. Das macht es doppelt schwer.“ Genau wie der Unwille einiger Gastfamilien, die aufgenommenen Flüchtlinge in ihrem Haus zu registrieren. „Ohne das empadronamiento wird ihnen der Alltag hier erschwert“, so Kvach. Dann könnten die Geflüchteten weder vergünstigte Bustickets noch eine Krankenkarte bekommen und auch ihre Kinder nicht einschulen. Es sei lobenswert, so Kvach, wenn Menschen helfen und ihr Haus übergangsweise zur Verfügung stellten. „Aber langfristige Hilfe ist ebenso wichtig.“

Andererseits: Jede gute Tat zählt. Die Deutsche Ali von Moltke jedenfalls überlegt, im Herbst eventuell wieder jemanden in ihrer Finca bei Inca aufzunehmen, wenn sie dann ein Zimmer frei hat. Eine Ukrainerin mit Kind zum Beispiel, die erst einmal Ruhe brauche. Eine erste Auffangstelle für die Ankommensphase eben.