Es ist der 1. September 2021. Die Eurowings-Maschine aus Stuttgart landet um 14.25 Uhr in Palma de Mallorca. Pünktlich. „Nicht so schnell, Mucki“, sagt Klaus Schneider, als seine Frau aus dem Flugzeug steigt und Richtung Ausgang strebt. Am Terminal C, an den Flugsteigen vorbei, zur Ladenzeile. Auf Höhe des Swarovski-Geschäfts ruft er noch einmal. „Mucki.“ Sein letztes Wort. Dann kippt der 74-Jährige vornüber. Seine Frau kann ihn gerade noch stützen. „Er lief im Gesicht blau an und nässte sich ein. In dem Moment wusste ich, dass es vorbei ist“, sagt Mucki Schneider.

Ihre Augen sind feucht, doch sie ist gefasst, jetzt, ein Jahr später, als die 72-Jährige der MZ auf einer Hotelterrasse in Cala Millor von jenem Tag erzählt, an dem sich von einem Moment auf den anderen alles veränderte. Zum Todestag ist sie erstmals wieder auf die Insel gekommen, mit der gleichen Maschine wie damals. Diesmal in Begleitung ihrer Schwester. Am Flughafen, an der besagten Stelle, malte sie nach der Ankunft am Donnerstag (1.9.) mit Lippenstift ein Herz auf den Fliesenboden und legte einen Rosenstrauß darauf. „Alles, was vor einem Jahr passiert ist, war plötzlich wieder ganz deutlich da“, sagt sie.

"Niemand war für mich da"

Die Bilder von der zufällig vorüberkommenden Krankenschwester, die sofort versuchte, Klaus’ Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Von der Passantin, die mit Schneiders Handy ihren Sohn anrief. „Er wohnt in Pina. Er muss über die Schnellstraße gerast sein. Er war wenig später da“, erinnert sich Schneider. Ihn ließen die Notärzte vom Flughafen hinter die Abschirmung, die sie kurz nach Klaus’ Zusammenbruch an Ort und Stelle errichteten und hinter der sie weiter versuchten, den 74-Jährigen zu reanimieren – vergeblich. Mucki Schneider dagegen setzten sie auf einen Stuhl, mit dem Rücken zu ihrem Mann. „Kein Puls“, „schneller“, waren die einzigen Wortfetzen, die sie mitbekam. „Niemand war für mich da. Und niemand ließ mich die Hand meines Mannes halten. Nur ein Wachmann passte auf, dass ich brav dort sitzen blieb, mit dem Blick auf eine Säule“, sagt Mucki Schneider. Auf dem Totenschein trägt der Arzt später 16 Uhr als Todeszeitpunkt ein. „Für mich war er da schon lange tot.“

Eigentlich, erinnert sie sich, war es ein ganz normaler Flug gewesen. In Stuttgart am Flughafen hatte sie sich noch Wimperntusche gekauft und ein belegtes Brot. Mit freudiger Erwartung, nach der Pandemie-Pause endlich mal wieder nach Mallorca zu kommen, wo der gemeinsame Sohn seit Jahren lebt. Zigmal war sie schon hier gewesen, meist mit Klaus, meist zum Fincaurlaub. Son Serra de Marina, Artà, Costa dels Pins, Es Trenc – kaum ein Ort auf der Insel, an dem sie keine gemeinsamen Erinnerungen hat. „Nur hier in Cala Millor waren wir nie. So ein Hotelurlaub, das war gar nicht unser Ding“, sagt Mucki Schneider mit Blick auf die Bettenburgen.

Eigentlich alles normal verlaufen

Es habe nur undeutliche Anzeichen dafür gegeben, dass ihr Mann krank war. Mal ein Schwindel, mal starker Kopfschmerz. „Ich habe ihm gesagt, er solle zum Arzt gehen, aber das wollte er nie.“ Und eigentlich war ja auch alles ganz normal verlaufen an jenem 1. September vor einem Jahr. „Mein Mann fliegt nicht so gerne. Und die Corona-Auflagen haben ihn etwas gestresst. Doch ansonsten verlief alles glatt, und nach dem Start gab ich ihm Schwarzwald-Sprudel zu trinken.“ Kein Indiz dafür, dass Klaus Schneiders Herz wenig später unvermittelt aufhören würde zu schlagen.

Als die Notärzte den Wiederbelebungskampf aufgaben, war es Schneiders Sohn, der seinem Vater die Augen schloss. Sie selbst wurde ins Erdgeschoss in ein schmuddeliges Hinterzimmer geführt, einen letzten Blick auf ihren toten Mann habe man ihr verwehrt. Gespräche mit der Polizei, langes Warten. „Gegen 19.30 Uhr konnten wir endlich zur Finca meines Sohnes fahren. Gut, dass es nicht auf einer anderen Reise passiert ist. Wenn er nicht da gewesen wäre, hätten sie mich wohl in die Psychiatrie einweisen können.“

Olivenbaum auf der Finca gepflanzt

In der Nacht nach dem Tod zog ein Gewitter auf. „So stark, wie ich es auf Mallorca noch nicht erlebt habe. Das war der Moment, in dem ich Abschied nahm“, erzählt Schneider. Nach zehn Tagen bürokratischen Aufwands dann die Abschiedsfeier am Friedhof in Palma, die Verbrennung im Krematorium. „Auf dem Rückweg kauften wir einen Olivenbaum und pflanzten ihn auf der Finca meines Sohnes ein. Wir begossen ihn mit dem Rest Schwarzwald-Sprudel, der noch in der Flasche vom Flughafen war.“ Am elften Tag der Rückflug. Die Asche von Klaus wurde dann wenig später nach Frankfurt geliefert. Einen Teil davon bewahrt Mucki Schneider bis heute in einem Amulett auf, den anderen hat sie in der Urne in einem Friedwald vergraben. Ganz so, wie Klaus es gewollt hatte.

Sogar die Trauerrede hielt sie noch selbst. Doch als die Aufregung vorbei war, warf der Tod ihres langjährigen Gefährten die sonst so selbstsichere 72-Jährige aus der Bahn. „Ich hatte sogar Selbstmordgedanken“, gesteht sie. Noch immer ist Klaus allgegenwärtig für sie. In ihren Gedanken ebenso wie als Hintergrundbild auf dem Smartphone. „Ist er nicht ein schöner Mann?“, fragt sie. Die beiden kannten sich schon seit ihrer Jugend.

Der Entschluss, zurückzukehren nach Mallorca, an den Ort, wo es passierte, reifte lange in ihr. Vor etwa vier Wochen buchte sie die Reise. „Ich hatte Angst, ja, richtig Horror. Und es war unglaublich hart, den gleichen Weg noch einmal zu gehen, den ich damals mit Klaus gegangen bin“, sagt Schneider. Doch als sie am vergangenen Donnerstag nach mehreren Gedenkminuten und zahlreichen Tränen den Flughafen verließ, habe sie sich befreit gefühlt. „Ich habe abgeschlossen“, sagt sie. „Klaus wartet hinterm Regenbogen auf mich, so haben wir es vereinbart.“ Bis dahin wolle sie ihr Leben genießen. Ohne Männer, aber mit viel Reisen. Auch nach Mallorca.