Jaume Deyà steuert im schier endlosen Geröllfeld zielstrebig eine Stelle an und räumt dort die Steine vorsichtig zur Seite. Menschliche Knochen kommen im vom Regen noch feuchten Untergrund zum Vorschein. „Das ist der Schädel, hier ist das Schlüsselbein“, sagt der Archäologe und deutet auf die Umrisse des unvollständigen Skeletts. Der Kopf ist Richtung Süden gebettet, wo gerade die blasse Herbstsonne zwischen den Wolken hervorschaut, das Gesicht ostwärts, die Füße zeigen gen Norden.

Es ist ein weiteres Grab des muslimischen Friedhofs, der hier einst war. Dass diese Knochen nun erstmals sichtbar sind, liegt nicht nur am niedrigen Wasserstand des Gorg Blau – zu Herbstbeginn erreichen die beiden Stauseen in der Tramuntana ihren alljährlichen Tiefststand. Hinzu kommt, dass die ersten Niederschläge zum Ende des Sommers das Gelände des einstigen Almallutx aufgewühlt und neue Grabstätten zutage gefördert haben.

Es ist vor allem die Kombination aus immer intensiveren Trockenperioden und sturzbachartigen Wassermassen, die der Ausgrabungsstätte zusetzt. Almallutx nehme jetzt größeren Schaden als noch vor 15 Jahren, erklärt Deyà. Eine wissenschaftliche Intervention sei dringender denn je – und nach mehr als einem Jahrzehnt vergeblicher Appelle an die politischen Institutionen tut sich nun endlich etwas.

Jaume Deyà erklärt die hoch entwickelte Töpferkultur der Araber. | FOTO: FELDMEIER

Deyà legt die Steine wieder zurück auf die freigelegten Knochen. So sollen sie vor den zufälligen Blicken von Ausflüglern geschützt sein. Und ähnlich provisorisch musste bislang auch mit den sonstigen Ausgrabungen in der Umgebung umgegangen werden. Das Wasser des Gorg Blau überspült sie ohnehin alljährlich bis zum nächsten Herbst.

Zufallsfund vor elf Jahren

Der 37-Jährige hatte die wohl wichtigste Ausgrabungsstätte Mallorcas aus muslimischer Zeit im Jahr 2011 zufällig entdeckt, zusammen mit seinem Studienfreund Pablo Galera beim Besuch von Höhlen in der Umgebung. Almallutx war wohl die letzte Zufluchtsstätte der Araber, nachdem der katalanische Erobererkönig Jaume I. im Jahr 1229 die Insel eingenommen hatte. Hier oben in den Bergen, umringt von den Gipfeln der Serra de Tramuntana, liegen in einem mehrere Hektar großen Gebiet auch noch Überreste anderer Epochen verstreut: schiffsförmige Wohnbauten der Bronzezeit, Gemäuer und eine Kultstätte aus talaiotischer Zeit, Behausungen der Römer… Und eben eine Wohnsiedlung, zwei Friedhöfe sowie eine Moschee aus maurischer Zeit.

Es sind Überreste, die Ausflügler ohne archäologische Kenntnisse nicht wirklich erkennen, auch wegen der Trockensteinmauern, Köhlerplätze oder Kalköfen aus späterer Zeit, für die das steinerne Baumaterial recycelt wurde und auf die der vor mittlerweile 50 Jahren aufgestaute Gorg Blau derzeit ebenfalls den Blick freigibt. Umso interessierter sind die rund drei Dutzend Teilnehmer der mallorquinischsprachigen Führung am Tag des MZ-Besuchs Ende September. Im Schlepptau des Archäologen stolpern sie über das Geröllfeld und stellen alsbald selbst Mutmaßungen über Steinbrocken, Knochen- und Keramikreste an.

Reich der Lebenden und Toten

Deyà gibt einen Überblick über das Gelände. Wir stehen am südlichen Ende des Gorg Blau und schauen über die Wasserfläche nach Norden. Linker Hand ein Pass über die Berge – das war in talaiotischer Zeit, also im ersten Jahrtausend vor Christus, das Reich der Götter. Geradeaus Wohnbehausungen und eine Kultstätte – mit Mühe ist aus der Ferne der Rest einer Säule zu erkennen –, das war das Reich der Lebenden. Und rechter Hand einstige Begräbnisstätten, das Reich der Toten.

Sind die erhaltenen Zeugnisse aus der Frühzeit eher spärlich, finden sich in Almallutx umso mehr Spuren aus der maurischen Zeit. Es ist fast kinderleicht, schnell haben Teilnehmer Scherben im von Deyà beschriebenen, charakteristischen Türkis gefunden. Sie stammen nicht von schlichten Behältnissen, sondern von den verschiedensten Utensilien, Zeugnisse eines hoch entwickelten Keramikhandwerks, zumeist importiert von arabischen Siedlungen jenseits der Insel. Einer der wieder zusammengepuzzelten Töpfe zeigt Deyà auf einem DIN-A-3-Block. Und auch ihren einstigen Inhalt geben die Behältnisse preis: In einigen wurden bei Analysen Pollen gefunden, die auf ein Gemisch aus Zitrone, Öl und Safran schließen lassen – es sei das erste Mal im Mittelmeerraum, dass das kostbare Gewürz für die Zeit des Mittelalters nachgewiesen worden sei, sagt Deyà.

Der Archäologe deutet auf ein menschliches Gebiss unter den Steinen. | FOTO: FELDMEIER

Auch die Wohnbauten waren keine schlichten Hütten, sondern Häuser aus Steinmauern, mit wasserundurchlässigen Dächern aus Holz, càrritx, wie die für die Tramuntana charakteristischen Gräser heißen, sowie einer Schicht Ton. Die Steinquader, die das Türportal jedes Hauses markierten, sind mit bloßem Auge erkennbar, die einstigen Umrisse treten aus dem Geröllfeld hervor, und auch Reste des Kalks, mit dem die Mauern verputzt waren, finden sich in winzigen Mengen.

Wo stand die Moschee?

Der Standort der damaligen Moschee dürfte inzwischen eindeutig identifiziert sein. Deyà zeichnet im feuchten Boden die Umrisse nach und zeigt die Reste des Mauerwerks – die mesquita war kein monumentales Gebäude, aber doch groß genug für die nicht wenigen Bewohner. Die Ausmaße der Fundstätte deuten darauf hin, dass es die wohl zweitgrößte muslimische Siedlung der Insel hinter Madina Mayurqa war, dem heutigen Palma.

Und es war wohl auch der letzte Zufluchtsort für die Mauren, als die christlichen Eroberer im 13. Jahrhundert kamen, möglicherweise auch Sitz einer provisorischen Regierung, schließlich Flüchtlingslager. Aus damaliger Sicht bestand die Hoffnung, dass die Truppen von Jaume I., die Madina Mayurqa eingenommen hatten, nur ein Intermezzo darstellten, bevor arabische Verstärkung aus Nordafrika oder von Menorca eintreffen würde. Doch auch die Nachbarinsel streckte die Waffen. Auf Mallorca fielen nach und nach die letzten Zufluchtsorte der Araber, die Felsenburgen von Alaró, Felanitx und das Castell del Rei – und schließlich, nach rund zwei Jahren, auch Almallutx.

Drastisch schildert Deyà die damalige Praxis beider Seiten, die jeweils Unterworfenen zu versklaven und Familienmitglieder zu trennen. Die Funde in Almallutx zeugen von großer Gewalt, auch von einem Feuer, dass bei der Eroberung der Siedlung gelegt wurde. Dass die Flucht hier endete, darauf deutet etwa der Fund eines Schlüssels in einem früheren Hausportal hin – kein flüchtender Araber hätte ihn zurückgelassen, davon ist der Archäologe überzeugt.

Machtwort der Unesco

Es dürfte noch viel mehr solcher Funde geben. Bislang legten Deyà und Galera mit offizieller Erlaubnis, aber ohne Unterstützung der öffentlichen Hand und mithilfe von Spenden die Überreste von zwei der rund 30 sichtbaren und insgesamt wohl mehr als doppelt so vielen Wohnbauten frei. Dabei mussten sie mit ansehen, wie Geröll und Wassermassen sie wieder unter sich begruben. Das Auf und Ab des Wassers richtet immer neuen Schaden in Almallutx an, gerade auch im Bereich der Kultstätte. Dass es so nicht weitergehen kann, merkte Ende vergangenen Jahres auch der Internationale Rat für Denkmalpflege der UNESCO in einem Brief an den Inselrat an. Die internationale Institution wacht über die Auflagen, die mit dem Welterbe-Titel der Tramuntana verknüpft sind.

Seitdem steht der Inselrat unter Handlungsdruck. Auf einem Treffen von Vertretern des Inselrats, der Stadtverwaltung von Palma, der das Gebiet gehört, der Stadtwerke Emaya, die den Betrieb der Stauseen Cúber und Gorg Blau verwaltet, sowie des Stiftungsrats der Serra de Tramuntana wurde ein Ausgrabungs- und Konservierungsprojekt auf den Weg gebracht, das nun in Vorbereitung ist und mit dem Deyà und Galera beauftragt werden könnten – keiner kennt Almallutx schließlich so genau wie die beiden Archäologen.

Funde nicht berühren

Seine Brötchen verdient sich Deyà allerdings als Geschichtslehrer in Sóller. In seiner Freizeit und bei Niedrigwasser im Herbst schaut er ab und an in Almallutx nach dem Rechten und zeigt Interessierten die Fundstätte, wie heute im Rahmen des Welterbe-Bildungsprogramms APS (apstramuntana.cat). Obwohl die Führung schon rund zwei Stunden dauert, werden die Teilnehmer nicht müde: Über eine steile Böschung und durch einen Hain von Steineichen geht es ostwärts am Stausee entlang. Der Blick fällt auf das trockene Bachbett eines Sturzbachs. Hier, am Ufer und unter der sich kräuselnden Wasseroberfläche des Gorg Blau, standen weitere Häuser.

Der Blick der Teilnehmer ist geschärft für Knochenreste, die Funde werden dem Archäologen gezeigt. „Das war eine Ziege“, sagt Deyà mit schnellem Blick. „Das ist ein Schneckenhaus“, bekommt ein Kind zu hören, während der Forscher zielsicher Steinbrocken zur Seite räumt, unter denen die Reste von weiteren Skeletten ruhen. Solange die archäologischen Schätze von Almallutx mehr oder weniger ungeschützt sind, appelliert Deyà an alle Ausflügler, Funde nicht zu berühren und über Facebook-Nachrichten zu melden (facebook.com/Almallutx.Musulmanes.Mallorca).

Um weiterzukraxeln bis zur Kultstätte bleibt keine Zeit. Ein andermal, verspricht Deyà. Die sinkende Herbstsonne wirft bereits lange Schatten und verschwindet gleich hinter den Bergen. Der Schatz von Almallutx sei zu groß, um ihn bei nur einem Besuch zu erkunden.