5. Januar 1937: Es ist nachts, als ein Mann in eine Bar in Palmas Fischerviertel Molinar stürzt. „Schaut her, das ist der Büstenhalter von Aurora“, ruft er begeistert und hält ein blutbeflecktes Kleidungsstück in die Höhe. In Windeseile spricht sich die Nachricht herum: Aurora Picornell ist tot. Was für die einen Grund zum Jubel ist, sorgt bei den anderen für tiefe Bestürzung. Picornell war jung, leidenschaftlich, mutig und mitreißend – und polarisiert noch heute. 85 Jahre nach ihrer Ermordung durch Putschisten unter Francisco Franco wurden jetzt ihre sterblichen Überreste identifiziert, gefunden in einem Massengrab auf dem Friedhof Son Coletes bei Manacor. Und wieder sorgt die junge Kommunistin für Gesprächsstoff.

So war es schon damals, Mitte der 30er-Jahre, auch lange vor ihrem Tod. Wenn Aurora Picornell in Mallorcas Dörfern auftauchte, dann kamen die Leute in Scharen. Ihre Reden beflügelten die Menschen, ihre Ideologien fanden Anklang. Die am 1. Oktober 1912 in Molinar geborene Politikerin war eine Art Insel-Ikone, auch bevor sie Opfer der Faschisten wurde. „Schon Anfang der 30er-Jahre wurde sie in Veröffentlichungen als die ,heldenhafte Aurora Picornell‘ bezeichnet, viele wollten so sein wie sie“, sagt Autor und Historiker David Ginard.

Ihre linke Weltanschauung war tief in ihr verwurzelt – auch ihre Familie positionierte sich stets klar. Schon als junge Frau gründete Picornell die Gewerkschaft der Insel-Schneiderinnen mit, trat der kommunistischen Partei bei und wurde zunächst durch bissige Artikel im Parteiorgan „Nuestra Palabra“ populär. Mit den Jahren erlangte die zielstrebige, aber zugleich kontaktfreudige junge Frau zunehmend durch Auftritte auf Kundgebungen Bekanntheit. Und durch ihre fortschrittlichen Ansichten. Sie setzte sich ein für das einfache Volk, für gleiche Arbeitsbedingungen und Löhne von Männern und Frauen. Kämpfte gegen den Einfluss der katholischen Kirche vor allem im Erziehungsbereich und gegen die Ausbeutung der Landarbeiterinnen. 1934 organisierte sie den ersten Internationalen Frauentag auf Mallorca – und legte trotz weitgehender Forderungen stets eine umgängliche und charmante Art an den Tag, wie der Journalist Ángel Colomar bereits 1931 berichtet. „Und das in einer Zeit, als die politische Partizipation von Frauen auf Mallorca etwas sehr Außergewöhnliches war“, so Ginard.

Aurora Picornell (3.v.r.) mit den "Roten von Molinar" und anderen jungen Linken in den 1930er Jahren. DM-Archiv

Putsch gegen die Republik

Es waren turbulente Zeiten, in denen ganz Europa entzweit und der Faschismus im Auftrieb war. In Spanien kam der große Knall am 18. Juli 1936: Rechtsgerichtete Militärs um den späteren Diktator Francisco Franco erhoben sich in Spanisch-Marokko gegen die Republik. Auf Mallorca ergriffen die Aufständischen bereits einen Tag später die Macht. Picornell als bekennende Antifaschistin flüchtete sich mit Parteifreunden ins „Casa del Pueblo“ in Palma – einem Gemeindehaus, in dem sie zuvor oft Reden geschwungen hatte. Plötzlich musste sie sich verstecken, statt Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Doch ihr Versteck blieb nicht lange geheim. Franco-Schergen griffen sie auf, brachten sie zunächst ins Provinzgefängnis und dann ins Frauengefängnis Can Sales. Dort harrte sie bis zum 5. Januar 1937 aus. Unter unmenschlichen Bedingungen, gehalten wie Vieh, berichteten später Zeitzeugen.

Bürgerkrieg und Repression auf Mallorca

1936 putschten in Spanien nationalistische Generäle gegen die erst 1931 gegründete Zweite Republik. Es entbrannte ein blutiger Bürgerkrieg, der sich bis 1939 hinzog und in eine 36-jährige Diktatur unter Francisco Franco mündete. Auf Mallorca übernahmen die Aufständischen bereits zu Beginn des Bürgerkriegs die Macht und entfesselten mit Unterstützung italienischer Militärs eine blutige Repression. Die deutsche Legion Condor flog von Pollença aus Luftangriffe auf das Festland.

Dann, am Vorabend zum Dreikönigstag, kam plötzlich und ganz unvermittelt die Nachricht: Sie werde freigelassen, genau wie ihre vier Mitstreiterinnen aus Molinar, die Schneiderinnen Belarmina González Rodríguez, Catalina Flaquer Pascual und ihre Töchter Antònia und Maria Pascual, auch bekannt als „Las Rojas del Molinar“ (die Roten von Molinar). Die Monate im Gefängnis hatten sie mit Picornell zusammen ausgeharrt, so wie sie zuvor gemeinsam mit ihr auf die Straße gegangen waren. Nun sollten auch sie freigelassen werden – einfach so. Zeitzeugen zufolge hatte man am selben Tag auch Picornells zweijährige Tochter Octubrina kurz zu ihr gelassen. Dass es das letzte Mal sein würde, dass Aurora die Kleine in den Armen hielt und die Freilassung nicht mehr als eine Farce war, musste den Frauen schnell klar gewesen sein. Es war ein offenes Geheimnis, dass politische Gefangene nach ihrer Freilassung ermordet und verscharrt wurden. Ohne richterlichen Beschluss, ohne Vermerke in den Akten.

Es ist daher schwer, die letzten Stunden Picornells und der „Roten von Molinar“ zu rekonstruieren. Mit einem Auto wurden die fünf Frauen vom Gefängnis weggebracht, nach Porreres, wie man lange Jahre vermutete. Zu jenem Friedhof, wo auch Auroras Vater Gabriel zuvor von den Falangisten ermordet worden war. Ob Picornell wusste, dass auch ihr Bruder Ignasi nur einen Tag vor ihr von Francos Anhänger eliminiert worden war, ist unklar. Fest steht nur: Die Ikone blieb seit jener Nacht spurlos verschwunden – bis jetzt.

20. Oktober 2022

Wissenschaftler an einem der Massengräber auf dem alten Son-Coletes-Friedhof bei Manacor. CAIB

Nach 85 Jahren gibt es erstmals wieder eine Neuigkeit von Aurora Picornell – und abermals verbreitet sie sich auf der Insel wie ein Lauffeuer. Die sterblichen Überreste der Kommunistin seien dank einer DNA-Analyse identifiziert worden, gibt Balearen-Vizepräsident Juan Pedro Yllanes bekannt. Bei einem der Frauenskelette, die im November und Dezember vergangenen Jahres bei einer der großen Ausgrabungskampagnen auf dem Friedhof von Son Coletes bei Manacor gefunden wurden (siehe unten), handele es sich zweifelsfrei um die Gebeine von Aurora Picornell. Das Skelett sei in gutem Zustand, spezifiziert später Almudena García-Rubio, forensische Archäologin der Wissenschaftlichen Gesellschaft Aranzadi und Koordinatorin der Exhumierungsarbeiten. Drei Schüsse in den Schädel seien festzustellen, von denen einer durch den Hinterkopf, ein anderer durch die rechte Schläfe und ein weiterer durch den linken Gesichtsbereich eindrang. Außerdem gebe es vor dem Tod eingetretene Verletzungen an den Rippen sowie an der linken Elle und Speiche in Höhe des Handgelenks. Und dann sei da noch die Schreibfeder, die man auf Höhe des rechten Brustkorbs gefunden habe. Experten auf dem Festland seien bereits dabei, sie zu restaurieren.

Pathetische Reaktionen

Der Fund ist ein Erfolg, an den zu Beginn der Exhumierungskampagnen, die die linken Parteien der Balearen-Regierung anstießen, kaum jemand geglaubt hatte. Es sollte deswegen nicht am Pathos mangeln. Der Fund sei ein „Erfolg für die gesamte balearische Gesellschaft und die Vergangenheitsbewältigung“, so Yllanes. „Die Ausgrabung in Son Coletes hat die Studien über die franquistische Unterdrückung revolutioniert“, jubelte auch Jesús Jurado, Generaldirektor für Vergangenheitsbewältigung in der Balearen-Regierung. Die Bürgermeister von Manacor und Palma kündigten an, Aurora Picornell zur Ehrenbürgerin zu ernennen – eine Geste, die der Inselrat bereits im Jahr 2017 vollzog.

Graben gegen das Vergessen

2014 wurde auf Mallorca das erste Massengrab aus dem Bürgerkrieg geöffnet, damals noch durch die Initiative von Angehörigen. Erst dank eines vom Linkspakt beschlossenen Gesetzes konnten auf den Balearen im Herbst 2016 erstmals Grabungen mit öffentlichen Geldern finanziert werden. Seitdem exhumieren Archäologen und Forensiker an zahlreichen Insel-Standorten Opfer des Franco-Regimes, um die Geschichte aufzuarbeiten. Inselweit kamen insgesamt mehr als 2.000 Menschen durch die Schargen-Francos zu Tode, 48 Standorte möglicher Gräber sind dokumentiert. Bislang sind 241 Mordopfer identifizert.

„Die Ausgrabungen wären unter einer konservativen Regierung niemals zustande gekommen“, meinte Inselratsvorsitzende Catalina Cladera. Picornell repräsentiere das „feministische und freie Mallorca der Arbeiter, an dem wir weiter arbeiten wollen“. Und: „Kugeln können niemals die Ideen töten.“ „Erinnerung, Wiedergutmachung, Gerechtigkeit und Wahrheit sind unerlässlich, um in der Demokratie weiter voranzukommen“, so auch Antonia Jover von der Linkspartei Unidas Podemos. „Es ist eine Ehre, dass Picornell und die ,Roten von Molinar‘ wieder zu Hause sind. Der Faschismus hat es nicht geschafft, sie verschwinden zu lassen.“

Selbst die konservative PP äußerte sich nach einigem Zögern positiv zu der Identifizierung der Gebeine – nicht ohne hervorzuheben, dass sie ihren Anteil an den Voraussetzungen habe: Das zugrunde liegende Gesetz zur Vergangenheitsbewältigung sei schließlich „aus einem politischen Konsens heraus“ entstanden. Allein die rechtsextreme Partei Vox im Balearen-Parlament beteiligte sich nicht an einer offiziellen Ehrung Picornells, bei der alle anderen Parteien am Montag (24.10.) Seite an Seite standen.

Symbol für "kollektives Erbe"

Die Entdeckung der Gebeine in dem Massengrab in Manacor ist auch ein wissenschaftlicher Erfolg – hatte man sie doch bisher auf dem Friedhof von Porreres vermutet. „Es ist nicht logisch, dass Picornell und ihre Mitstreiterinnen erst nach Porreres und dann nach Manacor gebracht wurden, aber die Mörder verfolgten auch keine normalen Gedankengänge“, bewertet der Forscher Antoni Tugores die Geschehnisse von einst.

Letztlich sei es jedoch auch der symbolische Wert, wenn dem Fund solch große Bedeutung beigemessen werde. „Von allen außergerichtlichen Opfern des Franco-Regimes ist Aurora Picornell das bekannteste“, so Autor David Ginard. Zudem seien auch die Umstände ihres Falles besonders. „Es geschah in der Nacht des Dreikönigstages, sie soll schwanger gewesen sein, sie war schutzlos“, erklärt der Historiker. Gleichzeitig stehe ihre Ermordung für die vieler anderer Opfer, für ein „kollektives Erbe“.

Insgesamt 42 Tote sind seit Beginn der Kampagne identifiziert worden. Hunderte weitere Opfer bleiben verschwunden, darunter auch Picornells Mutter Joana. Allein ihre Tochter Octubrina überlebte damals. Man kann nur vermuten, was die jetzige Identifizierung von Aurora Picornell auch für Octubrinas beide Töchter bedeuten dürfte.