Dass Sóller ein hübsches Städtchen ist, hat sich herumgesprochen. Aber haben Sie schon einmal die Details der Jugendstil-Balkongeländer bewundert? Josep Lluís Pol i Llompart kennt sie praktisch alle. Nicht nur ihrer Eleganz wegen, auch weil sich mit den floralen Motiven fast alle Arten der Symmetrie durchspielen lassen – die Rotationssymmetrie, die Spiegelsymmetrie mit horizontaler oder vertikaler Achse, die Translationssymmetrie sowie mögliche Kombinationen. Besonders lange habe er nach einem Beispiel mit ausschließlich horizontaler Spiegelachse suchen müssen, meint der Mathematiklehrer. Er wurde aber fündig, auf der Plaça d’Antoni Maura Nummer 5.

Die Leidenschaft für mathematische Regeln, die sich überall im Kulturerbe auf den Balearen entdecken lassen, beschäftigt Pol i Llompart bereits seit 2005. Damals hörte er einen Vortrag über die „Kultur des mathematischen Blicks“ des Gelehrten Claudi Alsina Català. „Die Mathematik, das sind nicht nur Zahlen, sondern auch Maßeinheiten, Gesetze, Geometrie, Astronomie, Logik oder Musik“, so der frühere Vorsitzende der Balearischen Mathematischen Gesellschaft. Und das ist auch die Botschaft seines Buchs „Patrimoni i cultura matemàtica a les Illes Balears“, das jetzt erschienen ist. Es enthält 50 Kurzessays mit großformatigen Fotos, die jeweils ein traditionelles Element oder eine historische Figur zum Anlass nehmen, um mathematische Phänomene zu beschreiben.

Sieben Ecken dreschen besser

Ist Ihnen beispielsweise schon einmal aufgefallen, dass die Fensterrose in der Fassade der Kirche von Valldemossa just 17 Blütenblätter hat und nicht etwa 12, 24 oder 32 wie andere runde Kirchenfenster auf Mallorca? Dass ein solches regelmäßiges Siebzehneck allein mit Zirkel und Lineal gezeichnet werden kann, wusste man zwar schon lange. Aber erst dem Mathematiker Carl Friedrich Gauß gelang 1796 der mathematische Nachweis. Eine ähnlich kuriose Beobachtung lässt sich aber auch beim carretó de batre machen, einer mit Tierkraft gezogenen traditionellen Dreschwalze. Der Querschnitt des Steinblocks entspricht ausgerechnet einem regelmäßigen Siebeneck. Offenbar holperte eine Walze mit nur sechs Ecken zu sehr, mit acht Ecken dagegen mahlte sie nicht mehr so gut, vermutet Pol i Llompart. Also nahm man die kompliziertere Bauweise eines Siebenecks in Kauf – dessen Konstruierbarkeit ebenfalls Gauß nachweisen sollte.

Von Mallorcas „Feigen-Leiter“ (escala de figueralera) mit drei Füßen, die oben spitz zuläuft und an der sich der Satz des Thales zeigen lässt, über die schneckenförmige Wendeltreppe in Palmas ehemaliger Seehandelsbörse La Llotja (caracol de Mallorca), die ganz ohne vertikale Achse im Zentrum auskommt, bis hin zu den traditionellen Ölmühlen (tafones), an denen sich trefflich das Hebelgesetz von Archimedes demonstrieren lässt – es steckt tatsächlich überall Mathematik drin.

Feigen-Leiter „escala de figueralera“. Josep Lluís Pol i Llompart

Steinerne Formel in der Schlucht

Nach der Lektüre des Buchs sieht man Mallorcas Dudelsäcke (xeremies) mit anderen Augen: An der Länge der Pfeifen lassen sich die Oktav- und Quintsprünge ablesen. Ähnlich im Fall der rajoles de mocadorat – die traditionellen, auf der Hälfte ihrer Fläche eingefärbten Kacheln veranschaulichen die schon bei den Babyloniern bekannte Formel zur Berechnung einer Diagonalen im Quadrat. Der Blick auf die traditionellen Zungenstoffe (roba de llengües) erinnert daran, dass die Weiterentwicklung der Webstühle die Lochkartentechnik nutzte – es war die „Wiege des Computers“.

Und dann wäre da die Eulersche Formel, die zum Gedenken an den Schweizer Mathematiker in einen Felsstein im Barranc de Biniaraix eingraviert wurde – und zwar genau auf Höhe von Stufe 1.707: 1707 ist das Geburtsjahr Eulers. Der Sprung vom Anschaulichen zum Komplexen ist in diesem wie auch in vielen weiteren Kapiteln beträchtlich: Pol i Llompart spannt in nur wenigen Absätzen einen Bogen von der Steinschlucht über die irrationalen Zahlen bis hin zur Ästhetik mathematischer Formeln.

Eulersche Formel, verewigt im Barranc de Biniaraix. Roig Vélez

Datum, Zeit, Gewicht

Aber es gehört nun einmal alles zusammen, und in alltäglichen Dingen wie Datum und Uhrzeit stecken jahrhundertelange Grübelei und Tüftelei. Abzulesen auch an der heutigen Rathausuhr von Palma, En Figuera, von 1386. Der Gewichtsantrieb mit Hemmung ermöglichte zwar erstmals eine exakte mechanische Zeitmessung. Doch En Figuera zählte jahrhundertelang weiter die lokalen Stunden ab Sonnenaufgang. Erst ab 1849 richtete sie sich nach der Zeit in Madrid, nach der Greenwich Mean Time erst ab 1902. Beim Datum wiederum kam die Umstellung im Jahr 1582, auf Anordnung von Spaniens König Felipe II.: Mit Einführung des gregorianischen Kalenders mussten auch auf der Insel die Tage zwischen dem 4. und dem 15. Oktober gestrichen werden, um die Fehler des vorherigen julianischen Kalenders auszugleichen.

Ähnlich aufschlussreich die Erklärungen früherer Maßeinheiten. Vor Einführung des Dezimalsystems berechnete man Distanzen auf Mallorca in llegües, die jedoch mit 7.790 Metern eine andere Länge hatten als anderswo in Spanien. Markierungen für die später geltende llegua castellana mit ihren 6.349 Metern finden sich heute noch an der Landstraße nach Inca. Und Getreide wurde nicht in Gewicht, sondern Volumen abgemessen. Eine quartera entsprach 70 Litern und bestand wiederum aus sechs barcelles. In Sineu gibt es noch einen solchen bronzenen Messeimer aus dem 13. Jahrhundert.

„Rajoles de mocadorat“: Muster traditioneller Kacheln. Roig Vélez

Angesichts von derlei Kuriositäten überblättert man fast die mathematischen Klassiker Mallorcas, die magische Acht in Palmas Kathedrale etwa oder die abenteuerliche Mission des Astronomen François Arago, der 1808 auf dem s’Esclop die Länge eines Meters mittels der Vermessung von Teilen des Nullmeridians exakt bestimmte. Der Universalgelehrte Ramon Llull hat selbstredend ein eigenes Kapitel, ebenso die eher unbekannte Mathematikerin und Priorin Maria Pasquala Caro i Sureda (1768–1827).

Kompliziertestes Unterfangen sei die Suche nach einem sogenannten Salomonsknoten gewesen, so der Autor. Dabei handelt es sich um ein Ornament aus zwei ineinander verschränkten Ringen – zu finden beispielsweise auf Mosaiken und nebenbei ein Beispiel für die Topologie, der Lehre von der Lage und Anordnung geometrischer Gebilde im Raum. Pol i Llompart suchte nach dem Salomonsknoten in Bibliotheken und Kirchen. Erst nach einem Jahr stieß er auf ein Fundstück der Ausgrabungsstätte Almallutx am Stausee Gorg Blau, das den gesuchten Knoten zeigte. „Und dann entdeckte ich am selben Tag sogar einen zweiten, auf einer Kachel der Kirche von Monti-sion in Pollença.“

Kulturerbe und Mathematik

Josep Lluís Pol i Llompart: Patrimoni i cultura matemàtica a les Illes Balears (Katalanisch), 124 Seiten, erschienen bei El Gall, 33 Euro